Zu dieser Premiere reiste sogar Mona Neubaur an, die Wirtschaftsministerin von Nordrhein-Westfalen: Am Montag nahm ein Walzwerk von Thyssenkrupp in Hagen, am Rande des Ruhrgebiets, eine direkte Stromanbindung zu einem benachbarten Windpark in Betrieb. Dank einer gut drei Kilometer langen Leitung bezieht der Stahlverarbeiter nun Ökostrom, ohne damit das Elektrizitätsnetz zu belasten. Und der Konzern spart Netzentgelte. Nach Angaben des Landesverbands Erneuerbare Energien ist das die erste Direktanbindung eines Industriebetriebs in Deutschland, der Verband erhofft sich "Signalcharakter" und Nachahmer.
Die Fabrik in Hagen gehört zu Thyssenkrupp Steel Europe, der Stahltochter des Mischkonzerns Thyssenkrupp. Trotz der Premiere ist die Stimmung bei der Tochterfirma im Moment alles andere als feierlich. Denn Thyssenkrupp-Chef Miguel López lässt die Produktionskapazität des schlecht ausgelasteten Stahlunternehmens um ein Fünftel senken; das Management soll bis zu den Sommerferien ein Konzept präsentieren. Die Gewerkschaft IG Metall fürchtet den Abbau einer höheren, vierstelligen Zahl von Jobs. Insgesamt arbeiten 27 000 Menschen für die Tochter, davon die Hälfte in Duisburg, Europas größtem Stahlstandort. Außerdem ist die mächtige Gewerkschaft sauer auf López, weil der den Einstieg des tschechischen Milliardärs Daniel Křetínský bei der Stahlsparte gegen den Willen der Arbeitnehmervertreter durchgedrückt hat.
Die IG Metall lehnt die Beteiligung eines Investors nicht grundsätzlich ab, fühlt sich aber von López schlecht informiert und hält das Geschäft für übereilt und riskant. Křetínský übernimmt zunächst 20 Prozent der Anteile, später wollen Thyssenkrupp und er jeweils 50 Prozent an der kriselnden Gemeinschaftsfirma halten. Auf einem Flugblatt warnt die Gewerkschaft jedoch, dass schon die 20-Prozent-Beteiligung weitreichende Folgen haben werde. Demnach führt die Veränderung im Eigentümerkreis dazu, dass der sogenannte Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag zwischen Thyssenkrupp und der Stahltochter erlischt. Thyssenkrupp Steel Europe sei dann selbständig - und die bisherige Konzernmutter könne sich aus der Verantwortung stehlen, die Firma finanziell zu unterstützen.
Dabei koste allein der geplante Stellenabbau mindestens eine Milliarde Euro, etwa für Abfindungen, rechnet die IG Metall vor. Schließlich untersagt ein Tarifvertrag noch zwei Jahre lang betriebsbedingte Kündigungen. Weitere drei Milliarden Euro seien für Investitionen nötig, um die Stahltochter "auf Augenhöhe mit dem Wettbewerb" zu bringen, heißt es in dem Flugblatt: "Eine Verselbständigung ohne diese Ausstattung wäre der sichere Tod."
Der Staat zahlt zwei Milliarden Euro
Die Stahlkonzerne müssen gerade viel Geld investieren, um die extrem klimaschädliche Produktion zu begrünen. Thyssenkrupp lässt bereits einen von sechs Hochöfen in Duisburg durch eine sogenannte Direktreduktionsanlage ersetzen. Die gewinnt Roheisen nicht mit Koks und Kohle, sondern von 2029 an mit klimafreundlich erzeugtem Wasserstoff. Das grüne Trumm kostet drei Milliarden Euro, wobei Bund und Land zwei Milliarden Euro übernehmen, in Form von Subventionen für Bau und Betrieb.
Industrie:Thyssenkrupps große Wette auf die grüne Zukunft
Das Stahlwerk des Konzerns ist schlimm fürs Klima. Jetzt will Europas größtes Hüttenwerk klimafreundlich werden. Ob das gelingt, ist entscheidend für die ganze deutsche Industrie.
Ein Sprecher von Thyssenkrupp bestätigt, dass mit dem Einstieg Křetínskýs der Beherrschungsvertrag auslaufe. Trotzdem werde die Konzernmutter die 80-Prozent-Tochter "vorerst weiter" finanzieren. Zielsetzung bleibe aber, "dass sich das Stahlsegment, das seit Jahren Verluste schreibt, aus eigener operativer Kraft finanziert".
Im Aufsichtsrat von Thyssenkrupp stimmten im Mai alle Arbeitnehmervertreter gegen den Einstieg von Křetínský. Gremiums-Chef Siegfried Russwurm, zugleich Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, löste das Patt zwischen Anteilseignern und Arbeitnehmern auf, indem er sein Doppelstimmrecht nutzte und so eine Mehrheit für das Geschäft schuf. Die IG Metall ist über das Vorgehen erzürnt. Gesamtbetriebsrats-Chef Tekin Nasikkol kritisiert, eine Entscheidung gegen den geschlossenen Widerstand der Arbeitnehmervertreter durchzudrücken, mithilfe von Russwurms Doppelstimme, begrabe "die letzten Hoffnungen auf ein faires, demokratisches" Miteinander: "Jetzt sind wir im Konfliktmodus."
Russwurm warnt bereits vorsorglich davor, durch Streiks die Werke lahmzulegen: "Produktionsstillstände oder Ähnliches wären gefährlich in der aktuell wirtschaftlich angespannten Situation und bei weltweit erheblichen Überkapazitäten", sagte er in einem Interview mit der Welt am Sonntag. "Damit würde man sich selbst am meisten schaden."