Süddeutsche Zeitung

Thatchers Erbe für Großbritannien:Ein ausrangierter Staat feiert sein Comeback

Margaret Thatcher spaltet noch immer das Königreich. Ihre Privatisierungen lieferten die Blaupause für ein Wirtschaftsmodell, das den Konsumenten durch mehr Wettbewerb billigere Dienstleistungen brachte. Sie führte ihr Land aber auch in die De-Industrialisierung. Ein Mittelstand fehlt, dafür ist die Finanzindustrie außer Kontrolle geraten. Heute wird der fast ausrangierte Staat wieder gebraucht.

Andreas Oldag, London

Menschen drängeln sich vor dem Londoner Odeon-Kino am Leicester Square. Auf dem Programm steht "The Iron Lady". Der Film über Margaret Thatcher, der Anfang März auch in Deutschland startet, ist ein Kassenhit. Und das nicht nur wegen der Schauspielerin Meryl Streep, die die Hauptrolle der eisernen Lady spielt.

"Thatcher ist eine starke Frau. Das bewundere ich", sagt Kinobesucherin Roxanna Hayes. Die 25-jährige Oxford-Studentin war wie viele ihrer jungen Landsleute noch nicht geboren, als die eiserne Lady am 4. Mai 1979 ihren fulminanten Wahlsieg errang und als erste Premierministerin in Downing Street 10 einzog.

Was macht Thatcher aus wirtschaftspolitischer Sicht so faszinierend? Es ist eine Mischung aus Bewunderung für eine Frau, die den konservativen "Old Boys Club" der Tories aufrüttelte, und tiefer Abneigung. Kritiker lasten ihr an, den Sozialstaat zerstört zu haben. Doch alle stimmen darin überein, dass Thatcher wie kaum jemand Wirtschaft und Gesellschaft am Ausgang des 20. Jahrhunderts prägte. Kein Zufall, dass der britische konservative Premier David Cameron nach seinem Amtsantritt 2010 nicht lange zögerte, die Baroness in der Downing Street zu empfangen. Camerons Vorgänger, Labour-Premier Gordon Brown, hat es nicht anders gehalten.

Die eiserne Lady leidet an Demenz

Thatcher leidet inzwischen an Demenz. Es ist unklar, was die 86-Jährige von ihrer Umgebung noch mitbekommt. Doch die Legende wirkt nur noch größer. "Es gibt keine Alternative", lautete ihr Spruch, den sie mit einer englischen stiff upper lip (sinngemäß: mit zusammengebissenen Zähnen) den Leuten einhämmerte. Kritik perlte an ihr ab wie Regen an ihrer sturmfesten Frisur. Notfalls schwang sie drohend ihre Handtasche. An ihrer Mission ließ sie keinen Zweifel: den Staatseinfluss zu stutzen.

Großbritannien galt damals als "kranker Mann" Europas. Die Insel verharrte in starren Strukturen eines Mehltau-Sozialismus der Nachkriegszeit. Kein Sack Kohle durfte eine Zeche verlassen, kein Auto vom Band rollen ohne das Plazet eines Gewerkschaftsfunktionärs. Die verstaatlichte Kohle- und Stahlindustrie war in ihrer Wettbewerbsfähigkeit hoffnungslos zurückgefallen. Die Unternehmen glichen maroden, volkseigenen Kombinaten.

Die Briten haben den Sozialismus satt", postulierte Thatcher. Sie verpasste der Wirtschaft eine Rosskur und startete das größte Privatisierungsprogramm in der Geschichte des Vereinigten Königreichs. Die Kaufmannstochter aus Lincolnshire folgte dem Lehrbuch liberaler Wirtschaftstheoretiker wie Friedrich Hayek und Milton Friedman, für die der Wohlfahrtsstaat daran krankt, dass er zu viel Geld ausgibt - Geld, das seinen Bürgern gehört. Weniger Staat, das war das Rezept der sparsamen Hausfrau, eine Rolle, die Thatcher perfekt spielte.

Aus heutiger Sicht erkennen sogar viele Kritiker an, dass es ihr gelang, die Stimmung in breiten Schichten des Volkes aufzugreifen. "Ich würde mir lieber die Zunge abschneiden, als etwas Positives über Thatcher sagen. Doch ihre Politik war erfolgreich, weil sie letztlich mehr Pragmatikerin als Ideologin war", meint der linksliberale Schriftsteller John Lanchester. Er hat vor kurzem ein viel beachtetes Buch mit dem Titel "Whoops!" (Hoppla) über die Finanzkrise veröffentlicht.

Thatcher brach die Herrschaft der Arbeitnehmervertreter

Thatcher hat die Herrschaft der Arbeitnehmervertretungen im Mutterland des Kapitalismus gebrochen. Doch als der Konflikt 1984/85 in einem großen Bergarbeiterstreik eskalierte und die Regierung mit Polizeigewalt gegen die rebellierenden Kumpel vorging, war dies keineswegs eine verzweifelte und einsame Entscheidung Thatchers. Meinungsumfragen zufolge unterstützte eine Mehrheit die Premierministerin in ihrer Haltung.

Thatchers Politik hatte Folgen: Die Privatisierungen von British Telecom und British Airways lieferten die Blaupause für ein neues Wirtschaftsmodell, das den Konsumenten durch mehr Wettbewerb bessere und billigere Dienstleistungen bescheren sollte. Das hatte Auswirkungen auf ganz Europa: Wahrscheinlich würden heute noch staatliche Airlines in der EU herumfliegen, die überteuerte Tickets verkaufen, wenn Thatcher nicht für frischen Wind gesorgt hätte.

Die Mutter der Deregulierung machte den Weg frei für eine junge Wirtschaftselite, die das Londoner Finanzzentrum zum Inbegriff der modernen Dienstleistungsgesellschaft machte. Seit dem Big Bang, dem Urknall zur Liberalisierung der Börsengeschäfte Mitte der achtziger Jahre, entwickelte sich die Finanzindustrie zu einem der am schnellsten wachsenden Wirtschaftszweige Großbritanniens.

Der Altherrenklub, der Zigarre rauchend zwischen 9.30 und 15.30 Uhr auf dem Londoner Börsenparkett seinen Aktiengeschäften nachging, wurde schon damals von jungen, smarten Bankern und Brokern abgelöst. Es war eine neue Generation von Händlern, die den Computerhandel groß machten und per Mausklick rund um den Globus mit Milliarden jonglierten.

Aber das Pendel schwang zu stark in eine Richtung. Thatchers Schock führte zu einer De-Industrialisierung des Landes. Alte Zentren wie Birmingham versuchten vergeblich mit Messen und Shopping-Malls dagegenzuhalten. Heute liegt der Anteil der Industrie am Bruttoinlandsprodukt bei bescheidenen 13 Prozent. Ein Mittelstand wie in Deutschland fehlt. Dafür ist die Finanzindustrie außer Rand und Band geraten, wagemutige Spekulanten, die mit allerlei vertrackten Geldprodukten die Finanzkrise von 2008 beförderten. Der reale Sozialismus landete auf dem Müllhaufen der Geschichte - umso eindringlicher stellt sich angesichts der weltweiten Finanz- und Schuldenkrise das Problem, inwieweit der Thatcherismus die Geister beschwor, die den Kapitalismus in seine schwerste Krise seit 1929 getrieben haben.

Sind also die destruktiven Kräfte des Marktliberalismus eine direkte Folge der Thatcher-Ära? Der britische Historiker Richard Vinen warnt vor einer "Maggie-Dämonisierung" wie sie besonders im linken politischen Lager Mode ist. Schließlich habe insbesondere die regierende Labour-Partei in den Jahren 1997 bis zum Ausbruch der Finanzkrise 2008 den wirtschaftspolitischen Rezepten Thatchers nachgeeifert, argumentiert Vinen.

Unter Tony Blair sanken die Realeinkommen

New Labour unter Tony Blair träumte von einer unfallfreien Wirtschaft, in der es nur bergauf gehen sollte. Es war eine naive Sichtweise. Die Kehrseite war, dass bereits in den Boomjahren 2002 bis 2008 die Einkommensschere in Großbritannien immer weiter auseinanderklaffte. So konnte die ökonomische Elite des Landes, die lediglich 0,1 Prozent der Einkommensbezieher ausmacht, ihren Wohlstand um 600 Prozent steigern. Dagegen stagnierten oder sanken die Realeinkommen der Normalverdiener.

Die tiefe Wirtschaftskrise, in der das Land seit der Pleite von Lehman Brothers steckt, hat den Prozess der sozialen Deklassierung beschleunigt. Ein Heer von Sozialhilfeempfängern, für die ein deutsches Hartz-IV-Einkommen ein Traum wäre, zählt zur sozialpolitischen Realität in den Hinterhöfen der alten Industriestädte wie Manchester, Birmingham und Glasgow. Die lower class hat kaum Aufstiegs- und Bildungschancen. Zu welchen Eruptionen dies führen kann, zeigten die Krawalle in Großstädten im Sommer 2011. Die überwiegend jugendlichen Plünderer nahmen sich das, was ihnen ihrer Meinung nach zustand. Genauso wie die Boni-Banker in der Londoner City: Sie zocken im weltweiten Finanzkasino, während für die milliardenschweren Verluste der Kreditinstitute der Steuerzahler geradesteht.

Überhaupt feiert der fast ausrangierte Staat angesichts eines derangierten Kapitalismus sein Comeback. Auf ihn richten sich nicht nur die Begehrlichkeiten der Finanzindustrie, die an ihrer Hybris gescheitert ist - es sind die von Arbeitslosigkeit und Abstieg bedrohten Menschen, die den starken Staat herbeisehnen. Das kann vernünftigerweise keine Rückkehr in den Staatskapitalismus bedeuten - doch der Staat muss seine Aufgaben und Ressourcen neu justieren. Einerseits gilt es, die Banker-Exzesse einzudämmen. Andererseits ist aber klar, dass für große, soziale Wohltaten die Finanzmittel fehlen. Die Schuldenlast Großbritanniens ist erdrückend.

"Es wird Zeit, mit der Arbeit anzufangen", sagt Meryl Streep als Lady Thatcher im Film. Das gilt erst recht in der gegenwärtigen Krise.

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SZ vom 25.02.2012/mane
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