Textilindustrie in Bangladesch:Faserland

17 Cent Stundenlohn, ein Minister für Jute - und Behörden, die mit der schwachen Stellung der Arbeiter um Geld werben: Bangladesch ist von der Modeproduktion für reiche Länder abhängig. Die Katastrophe von Savar hat es nun mit schrecklicher Kraft in den Fokus der Weltöffentlichkeit gerissen.

Von Jannis Brühl

Bangladesch Fabrik Kleidung Mode

Herlfer bergen eine junge Frau aus den Trümmern von Savar

(Foto: AP)

Nach der Katastrophe konnten sich die Bankmitarbeiter nicht nur über einen freien Tag freuen, sondern auch über die Tatsache, dass sie noch am Leben waren. Wie wenig die Sicherheit der Arbeiter in Bangladeschs Textilindustrie im Vergleich mit anderen Branchen respektiert wird, zeigt die Episode vor dem Einsturz des Rana-Plaza-Gebäudes in Savar nahe der Hauptstadt Dhaka: Nachdem Risse in den Wänden entdeckt worden waren, forderte der Chef einer Bankfiliale, einem der Nicht-Textilunternehmen im Gebäude, seine elf Mitarbeiter auf, zu Hause zu bleiben. Der mittlerweile verhaftete Gebäudebesitzer Sohel Rana soll die Näher der Textilfabriken in den oberen Stockwerken gezwungen haben, weiterzuarbeiten. Sie erschienen zur Arbeit, um T-Shirts und Hosen zu nähen. Mindestens 381 von ihnen überlebten den Tag nicht.

Nach dem Gebäudeeinsturz streikten die Textilarbeiter wieder. 4000 Fabriken standen still. In diesem Fall geht es ihnen weniger um höhere Löhne. Sie wollen mehr Sicherheit, Kontrollen beim Fabrikbau um Pfusch zu verhindern. Doch die Maschinen der Textilindustrie dürfen nicht stillstehen - geht es nach den Managern und den Politikern. Das Land ist abhängig vom Geschäft mit den Fasern: Bangladesch ist weltweit der zweitgrößte Produzent nach China. Die Industrie steuert mehr als zehn Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. Bis zu 20 Millionen der mehr als 160 Millionen Einwohner des Landes sind laut Herstellerverband BGMEA von der Branche abhängig. Fast 80 Prozent der Exporteinnahmen kommen aus dem internationalen Verkauf von Klamotten - von vielen Arbeitern mit der Gesundheit oder gar dem Leben bezahlt.

Schon als dieses Stück Land am Golf von Bengalen noch britische Kolonie war, war die Weberei von Stoffen aus der Bastfaser Jute einer der wichtigsten Produktionszweige. Nach der Unabhängigkeit und der Abspaltung des Landes von Pakistan 1971 stellte Bangladesch gezielt auf moderne Kleidungsproduktion um. Bangladesch dürfte das einzige Land sein, in dem ein Regierungsmitglied den Titel "Minister für Textilien und Jute" trägt.

In der Theorie soll die Textilindustrie als erste Stufe in der Entwicklung dienen: Mit billigen, wenig qualifizierten Arbeitskräften wird Kleidung für den Export produziert. Dafür strömt ausländisches Geld ins Land, dass dann wiederum in bessere Maschinen, Technologien und Bildung investiert werden kann.

Bangladeschs Wirtschaft wächst denn auch mit sechs bis sieben Prozent im Jahr. Die Bank Goldman Sachs stufte das Land vor wenigen Jahren als eines der "Next Eleven" ein. Jobs gibt es im Land mit den achtmeisten Einwohnern der Welt trotzdem nicht genug. In ihrem Länderbericht kommt die CIA zu dem harschen Schluss: "Bangladesch bleibt ein armes, überbevölkertes und ineffizient regiertes Land." Abgesehen von Zwergstaaten wie Singapur und Inseln wie Malta hat das Land die höchste Bevölkerungsdichte der Welt. All die Millionen Menschen leben auf einer Fläche, die gerade mal doppelt so groß ist wie Bayern. Auch wenn die offizielle Arbeitslosenquote bei fünf Prozent liege, seien 40 Prozent der Bangladescher unterbeschäftigt und arbeiteten nur wenige Stunden pro Woche.

Viele verlassen das Land. Besonders in reichen muslimischen Staaten wie Saudi-Arabien oder Katar übernehmen Bangladescher die harten körperlichen Arbeiten, zum Beispiel in den großen Bauprojekten. 2011 waren fünf Teams hochrangiger Regierungsbeamter damit beschäftigt, neue Arbeitsmärkte im Ausland zu erschließen - von Schweden bis Aserbaidschan. Für Entwicklungsländer sind Überweisungen von Landsmännern und -frauen, die im Ausland arbeiten, von hoher Bedeutung. Überweisungen von Auswanderern betragen etwa zehn Prozent des Bruttosozialproduktes von Bangladesch. In der Heimat ist die Textilindustrie für viele Bangladescher, vor allem für Frauen, die einzige Möglichkeit, ein Auskommen zu finden. 80 Prozent der Arbeiter im Textilsektor sind weiblich.

Niedrige Löhne, keine Gewerkschaften

Die mehr als drei Millionen Arbeiter stellen Kleidung für den Weltmarkt her, viele von ihnen in den acht Export Processing Zones (EPZ). Wer in diesen privilegierten Wirtschaftszonen eine Fabrik gründet, zahlt dafür in den ersten beiden Jahren überhaupt keine Steuern. In den nächsten zwei Jahren sind 50 Prozent steuerfrei, dann ein Jahr immerhin noch 25 Prozent. Zudem können die Produkte in die EU billig eingeführt werden. Das "Allgemeine Präferenzsystem" der Union befreit Entwicklungsländer größtenteils von Zöllen.

Wirtschaftsnobelpreisträger Mohammad Yunus, einer der berühmtesten Bangladescher, schreibt, die Textilarbeiter in Bangladesch lebten unter Bedingungen wie europäische Arbeiter zu Beginn der Industrialisierung (PDF). Ihre ständigen Streiks behinderten zwar die Wirtschaft, ihr Frust sei aber nachvollziehbar. Der Behörde zufolge, die für die EPZ zuständig ist, liegen die Mindestlöhne in der Textilbranche seit 2010 bei 33 Euro im Monat für Hilfskräfte und reichen bis zu 75 Euro für "Hochqualifizierte" - zumindest auf dem Papier (PDF).

Die Stundenlöhne liegen bei 17 Cent - noch deutlich unter jenen der anderen großen Textilexporteure wie Kambodscha (25 Cent), Vietnam (29 Cent), Indien (39 Cent), China (ca. 1 Euro) und der Türkei (1,86 Euro). Oft enthielten Fabrikbesitzer den Arbeitern ihren Lohn sogar komplett vor, schreibt Yunus. Zudem könnten sie jederzeit ohne konkreten Anlass gekündigt werden, und die direkten Vorgesetzten behandelten die Arbeiter schlecht. Wer protestiere, würde oft entlassen, verhaftet oder sogar von bezahlten Schlägern der Fabrikbesitzer angegriffen. Nur die Hälfte der Textilfabriken erfüllt die vorgegebenen Sicherheitsstandards, sagte ein Aktivist der Nachrichtenagentur Bloomberg.

Da es in den wirtschaftlichen Sonderzonen keine Gewerkschaften gebe, könnten die Arbeiterinnen keinen Einfluss auf die Politik nehmen, schreibt Yunus weiter. Erst 2004 verabschiedete Bangladesch - auch auf Druck ausländischer Politiker - ein Gesetz, nach dem "welfare councils", eine Art Betriebsräte, gegründet werden dürfen. Ihre Macht ist aber nicht mit westlichen Arbeitnehmervertretern zu vergleichen. Laut US-Außenministerium ignorieren viele Fabriken das Gesetz ohnehin komplett. Regierungsbehörden wie das Exportförderungs-Büro des Handelsministeriums machen bei Investoren sogar Werbung mit der schwachen Stellung der Arbeiter. Auf dessen Website findet sich unter der Überschrift "Produktionsorientiere Arbeitsgesetze" der Unterpunkt: "Jegliche Bildung von Gewerkschaften in den EPZ ist verboten."

Pfusch am Bau und die Weigerung der Verantwortlichen, das Gebäude zu evakuieren, soll die Ursache der Katastrophe vom Mittwoch vergangener Woche sein. Auch 2005, 2006 und 2010 starben viele Menschen in einstürzenden Textilfabriken.

Das größte Risiko für die Arbeiter in den engen Fabriken ist aber das Feuer: Zwischen 2006 und 2012 kamen mindestens 579 Arbeiter bei Hunderten Bränden ums Leben. Im November 2012 starben beim bislang schwersten Fabrikbrand in der Geschichte des Landes 117 Menschen. Alleine in den zwei folgenden Monaten kam es zu 28 weiteren Feuern (die niederländische Nichtregierungsorganisation Somo schildert in einem Bericht die Defizite beim Brandschutz in bangladeschischen Fabriken).

Für die 100.000 Fabriken der Hauptstadt Dhaka waren vergangenes Jahr der Organisation Human Rights Watch zufolge gerade mal 18 Inspektoren zuständig. Doch nicht nur skrupellose bangladeschische Geschäftsmänner, die sich ziemlich sicher sein können, dass ihnen die Bauaufsicht nur selten einen Besuch abstatten wird, profitieren von der miserablen Situation der Arbeiter.

Deutschland importierte Zahlen des Statistischen Bundesamtes zufolge aus Bangladesch 200.000 Tonnen Klamotten im Wert von 2,9 Milliarden Euro - nur China und die Türkei sind wichtiger für den deutschen Modemarkt. Die mittlerweile vom Netz genommene Website des Herstellers New Wave Style, eine der Firmen, die im Rana-Plaza-Bau produzierten, listete bis vergangene Woche ihre angeblichen Kunden auf: Dort stehen unter anderem die Namen des irischen Ramsch-Klamottenhändlers Primark, Mango, Benetton - und der Quelle-Versand. Das italienische Unternehmen Benetton will nur einmal dort bestellt haben. Die Otto Group, welcher der Versandhandel des einstigen Quelle-Imperiums mittlerweile gehört, sagt Süddeutsche.de, es müsse sich um eine alte Information aus der Zeit vor dessen Insolvenz handeln. Die Otto Group jedenfalls könne "absolut ausschließen", dass sie dort "Aufträge platziert" habe.

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