Billiger geht immer! Wer als Konsument in Deutschland nach diesem Credo verfährt, landet schnell bei einschlägigen Discountern wie Aldi, Lidl oder Kik. Seit Jahren liefern sich diese Handelskonzerne nicht nur im Lebensmittelhandel, sondern auch bei Haushaltswaren und Textilien einen unerbittlichen Preiskampf.
Die Geizkampagnen treiben nicht nur Europas Landwirte auf die Barrikaden - es gibt Menschen, die nach eigenen Aussagen noch deutlich stärker unter der Preispolitik der Discounter leiden. Diesen Eindruck vermittelt zumindest Khorshed Alam, Leiter des Instituts AMRF ( Alternative Movement for Resources and Freedom Society), bei einer Veranstaltung der Kampagne für Saubere Kleidung ( Clean Clothes Campaign - CCC) und der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in München.
Viele Überstunden, kärglicher Lohn
Der Wissenschaftler kämpft bereits seit Jahren für bessere Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie seines Heimatlandes Bangladesch. Die deutschen Discounter, die Jeans für 9,99 Euro (Aldi), Herren-Hemden für 7,99 Euro (Lidl) oder T-Shirts für 1,99 Euro (Kik) anbieten, sieht er in diesem Bemühen nicht so sehr an seiner Seite, sondern betrachtet sie vielmehr als eine von mehreren Urhebern der menschenrechtsverachtenden Produktionsabläufe. Denn Näherinnen in Bangladesch, die Kleidung für Discounter wie Lidl, Aldi oder Kik anfertigten, arbeiteten unter erbärmlichen Konditionen: "Die Arbeiterinnen müssen je nach Bedarf massiv viele Überstunden leisten und erhalten dabei einen Lohn, der bei weitem nicht zum Überleben reicht", klagt Alam.
Der 44-Jährige weiß, wovon er spricht. Erst im Frühjahr hatte er mit seinem Team eine Studie über die Arbeitsbedingungen bei vier Lidl-Lieferanten in Bangladeschs Hauptstadt Dhaka verfasst.
Lidl zog umstrittene Werbung zurück
Das Ergebnis der Untersuchung war so brisant, dass Lidl im vergangenen April sogar seine Werbung ändern musste.
Zuvor hatte die Verbraucherzentrale Hamburg gemeinsam mit der Kampagne für Saubere Kleidung (CCC) und dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) beim Landgericht Heilbronn gegen Lidl wegen unlauteren Wettbewerbs geklagt. Die Verbraucherschützer hatten Lidl vorgeworfen, zu Unrecht damit geworben zu haben, bei seinen bangladeschischen Zulieferbetrieben unter menschenwürdigen Bedingungen produzieren zu lassen.
Untermauert wurde die Klage durch die Studie Alams, die auf der Befragung von Näherinnen in den vier Unternehmen beruhte. Den darin enthaltenen Aussagen hatte Lidl so wenig entgegenzusetzen, dass der Discounter schon nach kurzem Prozessverlauf die Waffen streckte: Die Neckarsulmer verpflichteten sich, die umstrittene Werbung zurückzuziehen - das in Aussicht gestellte Ordnungsgeld von 50.000 Euro ersparte sich der Discounter lieber.
Doch den Näherinnen selbst nutzte das offenbar wenig. Alam zufolge arbeiten sie nach wie vor meist sieben Tage in der Woche. Mindestens zwei Überstunden pro Tag seien die Regel, oft seien es fünf und mehr Stunden. Wenn es die Auftragslage erfordere, müssten die Näherinnen auch Nachtschichten einlegen. Die gesundheitliche Gefährdung an den Arbeitsstätten sei zudem hoch: "In den vergangenen 20 Jahren hatten wir 500 Todesfälle durch Arbeitsunfälle", rechnet der Sozialwirt vor.
Beschimpfungen durch Vorarbeiter
Die Gründung von Gewerkschaften sei aber überaus gefährlich. Arbeitnehmeraktivisten würden bedroht und sofort aus den Unternehmen entfernt. "Obwohl Lidl sich im Rahmen des europäischen Gemeinschaftskodex Business Social Compliance Initiative (BSCI) verpflichtet hat, die Sozialstandards in den Produktionsländern zu verbessern, sieht die Realität anders aus," kritisiert der Wissenschaftler.
Arifa Akter hat am eigenen Leib erfahren, was es heißt, in Zuliefererbetrieben der westlichen Textilindustrie Hemden und Hosen zu nähen. Mehr als 20 Jahre arbeitete die 36-Jährige als Näherin in verschiedenen Textilfabriken Dhakas, bevor sie 2003 zur Gewerkschaftsfunktionärin wurde. Im Alter von zehn Jahren habe sie als Helferin für einen Monatslohn von 300 Taka (knapp über drei Euro) zu arbeiten begonnen. "Als ich dann schon etwas erfahrener war, habe ich die Arbeitgeber gewechselt und so den Lohn erst auf acht, dann auf 17 Euro und schließlich auf 30 Euro im Monat gesteigert."
Die reguläre Arbeitszeit habe von acht bis 17 Uhr gedauert. Oft seien dann noch Überstunden bis 22 Uhr angehängt worden, berichtet die Mutter von drei Kindern. "Wenn wir den Vorgesetzten nach der Bezahlung der Überstunden gefragt haben, wurden wir häufig hingehalten." Beschimpfungen der Vorarbeiter hätten zur Tagesordnung gehört, wenn die gewünschte Arbeitsleistung nicht erbracht worden sei. Selbst der Monatslohn einer qualifizierte Näherin von 30 Euro habe zum Leben nicht ausgereicht. "Eine Ein-Zimmer-Wohnung kostet in den Slums von Dhaka etwa 20 bis 25 Euro, ein Kilo Reis von schlechter Qualität liegt bei 37 Cents - da kam ich mit meinem Gehalt häufig nur einen halben Monat lang über die Runden." Die Hilfsorganisation Oxfam bestätigt diese Aussage auf Anfrage von sueddeutsche.de weitgehend. Der existenzerhaltende Lohn liege in Bangladesch bei mindestens 4800 Taka (48,97 Euro) pro Monat, sagt Oxfam-Expertin Marita Wiggerthale.
Polizei schlägt Demonstrationen nieder
Trotz der unmenschlichen Arbeitsbedingungen hielten die Näherinnen in den vergangenen Jahren überraschend lange ruhig - die Angst vor dem Jobverlust ist in einem Land einfach viel zu groß, das neben der Landwirtschaft kaum einen anderen Industriezweig als die Textilproduktion besitzt. Doch im Juni diesen Jahres riss dann selbst bei den geduldigen Sklavinnen der Mode der Geduldsfaden. Die pure Not trieb sie zu Tausenden auf die Straßen Dhakas, wo die Demonstrantinnen von Hundertschaften der Polizei mit Knüppeln, Tränengas und Wasserwerfern traktiert wurden. Vor dieser Gewalt kapitulierten die Näherinnen mit ihrer Forderung eines monatlichen Mindestlohnes von 5000 Taka (etwa 51 Euro) schließlich. Stattdessen gestanden ihnen die Textilfabrikanten ein Mindest-Almosen von 30 Euro zu.
Das Schicksal Arifa Akters sei in Bangladesch kein Ausnahmefall, sondern vielmehr die Regel, erläutert Alam. Denn neben Lidl ließen etliche westliche Handelskonzerne in dem Land fertigen, das nach China zweitgrößter Textilproduzent der Welt ist. Zu ihnen zählten beispielsweise die deutschen Discounter Kik und Aldi und viele weitere nationale und internationale Handelskonzerne wie etwa die schwedische H&M-, die französiche Carrefour- oder die englische Tesco-Gruppe. Die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf würden dabei in aller Regel verletzt.
Zu den ILO-Richtlinien zählen etwa die 48-Stunden-Woche, ein existenzsichernder Lohn, die Beschränkung von Überstunden, das Verbot ausbeuterischer Kinderarbeit und weitere Menschenrechtsnormen des Arbeitsschutzes. Die ILO-Normen wurden seit 1998 von etwa 120 Staaten anerkannt, doch zu diesen zählt Bangladesch nur auf dem Papier. Das Land hat die ILO-Richtlinien zwar weitgehend ratifiziert, doch hält sie kaum ein. Auch die Mitgliedschaft bei der BSCI biete leider kein Indiz dafür, ob diese Regeln tatsächlich auch nur annähernd befolgt würden, moniert die Münchner CCC-Vertreterin Patrizia Heidegger.
Wie auch Alam hält sie den Kodex der BSCI für ineffektiv, weil er allein von der Industrie getragen und verantwortet werde. Zwar ziehe der Beitritt zur BSCI offenbar Prüfungen nach sich, ob die angeschlossenen Unternehmen Normen einhalten würden. Doch aus diesen Inspektionen resultierten keine spürbaren Verbesserungen. "Wir wissen nicht, wie unabhängig die Prüfer sind, und welche Sanktionen bei Verstößen gegen Normen vorgesehen sind", kritisiert Heidegger. CCC würde daher im Zusammenhang mit BSCI von "Schönfärberei" oder " Greenwashing" reden: Der Kodex diene eher der Beruhigung westlicher Kunden als der tatsächlichen Verbesserung der Arbeitsverhältnisse in Bangladesch.
Lidl: "Der Verantwortung bewusst"
Alam hält ebenfalls wenig von der BSCI: "Das ist alles sehr intransparent, weil die Unternehmen sich letztendlich selbst kontrollieren", sagt er. Bessere Erfahrungen hätte er mit sogenannten Multi-Stake-Holder-Initiativen gemacht, an denen neben den Unternehmen auch Regierungs-, Nichtregierungs- und Arbeitnehmerorganisationen beteiligt seien. Gute Ergebnisse erziele beispielsweise die Fair Wear Foundation mit Sitz in Amsterdam, der neben Arbeitgeberverbänden auch gleichberechtigte Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) angehören würden. Zu Textilherstellern, die in Deutschland bekannt und bei Fair Wear vertreten sind, zählen beispielsweise die Firmen Odlo, Mammut und Jack Wolfskin.
Eine Anfage von sueddeutsche.de bezüglich der Vorwürfe ließen Kik, Aldi Süd und Aldi Nord jeweils unbeantwortet. Lidl versandte eine standardisierte Erklärung, in der die Discounter-Kette betonte, dass sie sich der Verantwortung bei der Herstellung ihrer Waren bewusst sei. Das Unternehmen lehne grundsätzlich jegliche Form von Kinderarbeit sowie Menschen- und Arbeitsrechtsverletzungen bei der Herstellung seiner Waren ab. Zudem strich Lidl heraus, als erster deutscher Discounter im Jahr 2006 BSCI beigetreten zu sein. Die Überprüfung der sozialen Standards erfolge durch international akkreditierte, unabhängige Prüfinstitute, heißt es in dem Schreiben weiter.
Auf die konkrete Nachfrage, um welche Prüfinstitute es sich handele, erhielt sueddeutsche.de keine Antwort. Auch Erkundigungen, ob die Kritik an BSCI auf Grund der Niederlage vor dem Landgericht Heilbronn berechtigt sei, ob Lidl-Zulieferer in Bangladesch den existenzerhaltenden Lohn von 50 Euro bezahlten und die anderen ILO-Normen einhielten und ob es für Lidl vorstellbar sei, der Fair Wear Foundation beizutreten, blieben unbeantwortet.
Allzu kooperativ erscheinen die Discounter bei der Bekämpfung inhumaner Arbeitsbedingungen in Bangladesch also nicht zu sein. Lidl-Chef Klaus Gehrig hatte im Sommer zwar indirekt Verstöße gegen die BSCI-Standards bei Zulieferern eingeräumt und Besserung gelobt. Viel konkreter ist Lidl in der Angelegenheit seither aber nicht mehr geworden. Die Anprangerung der Arbeitskonditionen in Bangladesch dürfte daher anhalten. Denn allein in Bangladesch gibt es nach Angaben des Institutes AMRF 4500 Textilfabriken, in denen dreieinhalb Millionen Näherinnen beschäftigt sind.