Shopping-App:Wem Temu wirklich gefährlich werden kann

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Eine der am meisten heruntergeladenen Apps in Deutschland: die chinesische Billig-Shopping-Plattform Temu. (Foto: IMAGO/Zoonar.com/rafapress/IMAGO/Zoonar)

Die chinesische Shopping-Plattform verliert gegen deutsche Verbraucherschützer. Das klingt erst mal gut, doch das Problem mit der App hat eine viel größere Dimension.

Von Michael Kläsgen

Die Nachricht klingt so, als sei das Problem Temu gelöst, zumindest vorerst. Der Verbraucherzentrale Bundesverband verzichtet auf eine Klage gegen die chinesische Online-Plattform. Denn Temu habe sich verpflichtet, alle beanstandeten Verstöße abzustellen, sagte Ramona Pop, Deutschlands oberste Verbraucherschützerin, am Dienstag. Temu teilte seinerseits mit, "großen Wert auf die Einhaltung der Vorschriften und die Erfahrungen der Verbraucher in Deutschland" zu legen. Also alles gut?

Wenn man sich die Vorwürfe genauer anschaut, erkennt man, dass es sich um ein Problem ganz anderer Dimension handelt. Die Verbraucherschützer monierten, dass Temu die Kunden verunsichere und übervorteile mit willkürlich erscheinenden Rabatten, fragwürdigen Bewertungen und manipulativen Designs. Wer die Temu-App öffnet und überlegt, etwas zu bestellen, dem blinken Hinweise entgegen wie "Beeile dich! Über 126 Personen haben diesen Artikel in ihrem Warenkorb". Auch willkürlich gestrichene Preise tauchen auf. All das soll es künftig nicht mehr geben. Bei Rabatten werde fortan erkennbar sein, worauf sich ein Preis bezieht, zum Beispiel durch Angabe der unverbindlichen Preisempfehlung des Herstellers, teilt die Verbraucherzentrale mit. Sie will zudem beobachten, ob sich Temu an die Vereinbarungen hält. Gegebenenfalls droht eine Vertragsstrafe.

Klingt nach einem klaren Sieg für die Verbraucherschützer. Aber für die deutschen und europäischen Händler scheint das Problem alles andere als gelöst. So sieht es jedenfalls E-Commerce-Unternehmer und Handelsexperte Alexander Graf. Er sieht in der Temu-App "ein komplett anderes Geschäftsmodell" im Vergleich zu dem, was man bisher im deutschen Onlinehandel kennt. Genauer: einen Innovationsschub, der diesmal nicht aus den USA, sondern aus China kommt.

"Der Kauf ist nicht so wichtig, wichtig ist jede Interaktion"

Das Innovative liege weniger darin, dass die auf Temu angebotene Ware meist ausgesprochen preiswert sei. Vielmehr stecken die Neuerungen hinter den Anwendungen, die die Verbraucherschützer bei Temu beanstandet haben. Denn all das, was einem auf der App begegnet, habe im Wesentlichen damit zu tun, die Nutzer möglichst lang in der App zu halten und dafür zu sorgen, dass sie morgen wiederkommen, so Graf. Das Stichwort hierfür: Gamification. Das sei ein fundamentaler Unterschied zu klassischen Händlern wie Amazon, Otto oder Zalando. Denen sei wichtig, dass man x-mal im Jahr etwas kaufe. Bei Temu und bei Tiktok Shop, der in den USA schon live ist, gehe es um etwas anderes: "Der Kauf ist nicht so wichtig, wichtig ist jede Interaktion: ein Share, ein Like, ein View, ein Kommentar", sagt Graf.

Dahinter verberge sich ein anderes, lukrativeres Geschäftsmodell als der Onlinehandel: Retail Media, also Werbung innerhalb von Websites und Apps von Händlern. Dabei gilt: Werbekunden zu gewinnen, ist umso leichter, je besser Plattformen belegen können, dass ihre Nutzer vergleichsweise viel Zeit in der App verbringen. Temu ist das gelungen. Laut Bloomberg verbrachten Verbraucher in den USA fast doppelt so viel Zeit auf der Temu-App wie auf vergleichbaren großen Plattformen. Bei Retail Media konkurrierten Temu und Tiktok nicht mit Amazon und Zalando, sagt Graf, sondern mit Google und Meta, der Facebook-Mutter. Die Bruttomarge liege bei Retail Media bei 60 bis 70 Prozent, im Onlinehandel hingegen bei maximal acht Prozent. "Temu greift Google und Meta an, nicht Zalando. Der eigentlich Dumme ist Google", sagt Graf. Denn Google habe viel mehr Daten als Tiktok und Temu, die Amerikaner seien aber bisher nicht in der Lage gewesen, ihr Geschäftsmodell so anzupassen.

Deutschen Händlern dürfte es nicht so schnell gelingen, die Leute länger in ihrer App zu halten. "Der Schritt von Peek und Cloppenburg zu Zalando ist wahrscheinlich kleiner als der von Zalando zu Temu", schätzt Graf. Andere chinesische Plattformen haben ihn dagegen längst getan. Der Videodienst Tiktok betreibt in den USA längst mit Erfolg Onlinehandel. Ende 2023 meldete Tiktok mehr als 500 000 Händler, die über die US-App Waren verkaufen wollen - mehr als doppelt so viele wie drei Monate zuvor. Weltweit hatte die E-Commerce-Plattform von Tiktok Ende 2023 mehr als 15 Millionen Verkäufer. Sie alle zahlen Gebühren, um dort verkaufen zu dürfen. "Die Einkaufsstraße ist jetzt die Tiktok-App", sagt Graf, jedenfalls in den USA. In Deutschland ist Tiktok Shop bislang nicht verfügbar, soll aber kommen. Wenn das stimmt, wären das weiter keine guten Aussichten für deutsche Innenstädte.

Der Zoll ist laut HDE überfordert

Der öffentliche Diskurs in Deutschland dreht sich derweil um willkürliche Rabatte, fragwürdige Bewertungen, Giftstoffe in einzelnen Waren und die Paketflut in Lüttich, Belgien. Dort kommen die meisten der jährlich geschätzt mehr als zwei Milliarden Pakete von China in Europa an. Laut Zoll sollen davon etwa 60 Prozent "unterdeklariert" sein: Der angegebene Warenwert liegt demnach unter der Zollfreigrenze von 150 Euro. Sendungen würden zudem gestückelt. Stephan Tromp, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Deutschland (HDE), sieht den Zoll mangels Digitalisierung "überfordert". Auf EU-Ebene soll nun eine Abschaffung der Freigrenze erwogen werden. Verstöße gegen das EU-Produktsicherheitsrecht seien dagegen kaum zu ahnden. Abmahnungen funktionierten nicht, weil man in China keinen Titel zustellen kann. Und die Behörden könnten auch nicht einschreiten, weil es keine entsprechenden Abkommen gebe.

Es sieht ganz danach aus, als hätten die einzelnen Akteure in Europa nicht nur im Hinblick auf Innovation das Nachsehen.

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