Tempokontrollen:Statt Blitzer

Abschnittskontrollen zur Geschwindigkeitsmessung gibt es bisher nur im Ausland - bis auf eine Pilotanlage nahe Hannover. Die könnte nun bald im Regelbetrieb laufen.

Von Katharina Kutsche, Hannover

Streckenradar Section Control

Die Kameras des Streckenradars bei Hannover fotografieren Fahrzeuge, die auf dem zwei Kilometer langen Abschnitt der B6 zu schnell unterwegs waren.

(Foto: Peter Steffen/picture alliance/dpa)

Die letzte Kreuzung ist durchfahren. Jetzt kommen mehrere Kilometer auf zwei Spuren, bis die Bundesstraße 6 auf den Messeschnellweg einbiegt. Hier, im Süden Hannovers, zwischen Gleidingen und Laatzen, könnte man das Gaspedal richtig durchtreten. Wenn da nicht die Schilder wären, die auf Tempo 100 drängen. Und dazu die wuchtige weiße Brücke mit den zwei Kamerakästen über der Fahrbahn, die eindeutig so aussieht, als würde sie die Geschwindigkeit messen.

Section Control heißt die Technologie dahinter, zu Deutsch: Abschnittskontrolle. Es ist wirklich eine Anlage zur Überwachung - aber ist sie nur deren erster Teil. Was Section Control besonders macht, ist, dass sie an zwei Stellen im Abstand von exakt 2,183 Kilometern misst, wie schnell Autofahrer auf der Bundesstraße 6 unterwegs sind. In anderen Ländern wird diese Art der Überwachung schon länger genutzt, in Österreich und der Schweiz etwa. Doch in Deutschland ist die Anlage südlich von Hannover die erste und einzige, die so arbeitet. Und bisher sieht es so aus, als sei sie erfolgreich.

Jedes Fahrzeug wird am Einfahr- und Ausfahrpunkt registriert

Die Sensoren und Kameras erfassen zunächst alle Kraftfahrzeuge am Einfahrpunkt von hinten. Sie lesen die Kennzeichen aus und verschlüsseln sie mit einem Hash, also einem individuellen Daten-Fingerabdruck. Alle Hashwerte werden dann an den Computer im Ausfahrpunkt weitergegeben und für 90 Sekunden behalten. Am Ausfahrpunkt steht ein weiterer Brückenarm mit Sensoren. Passieren die Fahrzeuge diese Stelle, erzeugen die Kameras erneut einen Hashwert. Ein sogenannter Matcher in der Anlage führt die Daten mit denen vom Einfahrpunkt zusammen.

Mit Bulli und Kamera

Erste Regelungen zum Tempo gab es seit Anfang des 20. Jahrhunderts: Vom Jahr 1910 an waren innerorts nur 15 Stundenkilometer erlaubt, 1923 immerhin schon 30 km/h. In den nachfolgenden Jahrzehnten wurden Begrenzungen mal aufgehoben, erlassen und dann wieder aufgehoben. Erst seit dem 1. September 1957 gilt in ganz Deutschland innerorts die maximale Geschwindigkeit von 50 Stundenkilometern für alle Kraftfahrzeuge. Tempo 100 außerhalb geschlossener Ortschaften gilt seit 1976. Der wesentliche Faktor dabei war immer die Verkehrssicherheit, gemessen an der Zahl der Unfalltoten. Seit 1953 erhebt der Bund in der Verkehrsunfallstatistik die jährliche Entwicklung. Nach den jüngsten Daten, Ende Februar veröffentlicht, hat die Zahl der Getöteten 2019 mit 3.059 einen historischen Tiefstand erreicht. Zum Vergleich: Im Jahr 1980 waren es noch mehr als 13.000 Menschen, die auf deutschen Straßen ums Leben kamen. Doch natürlich ist jeder Tote einer zu viel. Und eine der Hauptursachen für Verkehrsunfälle ist erwiesenermaßen nicht angepasste Geschwindigkeit.

Das machte die Überwachungstechnik auch für die Polizei interessant. Das erste Verkehrsradargerät VRG1 stellte die Firma Telefunken 1956 bei der Internationalen Polizeiausstellung in der Essener Grugahalle vor. Mehrere Landespolizeien erprobten die Technik und entwickelten sie weiter. Zugelassen von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt Braunschweig, ging 1958 schließlich das VRG2 in Serie. Die allererste mobile Verkehrsüberwachung fand am 15. Februar 1959 zwischen Düsseldorf und Ratingen statt, aus einem VW Bulli der ersten Generation heraus. Die klobige Kamera stand vor der Bulli-Schnauze, verkabelt mit dem Messgerät im Wageninneren. Das Gerät kam mit einer 12-Volt-Stromversorgung aus und konnte aus 30 Metern Entfernung Geschwindigkeiten bis zu 150 km/h messen. Heute hat das VRG2 längst ausgedient. Es steht im Deutschen Polizeimuseum in Salzkotten. Katharina Kutsche

Um nun festzustellen, ob ein Auto- oder Motorradfahrer zu schnell unterwegs war, errechnet Section Control aus den erfassten Zeiten, in welchem Tempo die Fahrzeuge die gut zwei Kilometer passiert haben. Anders ausgedrückt: Wer zu schnell am zweiten Messpunkt ankommt, der muss zahlen. Damit die Zeitmessung hundertprozentig stimmt, nutzt die Anlage zwei Zeitquellen, per Funk und per GPS. Weichen die Uhrzeiten voneinander ab, deaktiviert das System die Messung.

Entwickelt hat dieses Verfahren das Unternehmen Jenoptik aus Jena. Jenoptik baut seit Jahren stationäre und mobile Blitzer - vom Tiefbau über die Fertigung im eigenen Haus bis hin zur Installation. Lukas Schiffer betreut die Kunden aus Polizeien und Innenministerien. Er sagt, bei der Überwachung gebe es kaum noch analoge Technik: "Von Hand wechselt keiner mehr Filme." Doch unabhängig davon ist die Abschnittskontrolle auch in ihrer rechtlichen Bedeutung anders. "Der wesentliche Unterschied zwischen konventioneller Blitzertechnik und Section Control ist, dass unsere Anlage am Beginn der Kontrollstrecke alle Fahrzeuge registriert." Herkömmliche Blitzer dagegen machen erst dann ein Foto, wenn Radar oder Sensor bereits den Anfangsverdacht geliefert haben, jemand könnte zu schnell unterwegs sein.

Hat der Matcher in der Jenoptik-Anlage einen Verstoß errechnet - und nur dann -, signalisiert er den vier Kameras, die auf dem Mittelstreifen hinter dem Ausfahrpunkt stehen, dass sie auslösen müssen. "Das Foto eines durchfahrenden Traktors, der es ohnehin nicht schafft, schneller als 100 km/h zu fahren, würde beim Ausfahrpunkt sofort wieder gelöscht", so Schiffer.

Das Funkmessstopp-Verfahren gab es schon in den Fünzigerjahren

Im Grunde setzt Section Control ein Verfahren um, das es schon in den Fünfzigerjahren gab: Polizeibeamte mit Klemmbrett und Stoppuhr maßen von Hand, wie schnell sich ein Auto zwischen zwei festgelegten Punkten bewegt, und gaben die Daten per Funk weiter. Das war personalaufwendig, zumal die Raser sofort angehalten und verwarnt werden mussten. Außerdem gilt das Gleiche wie bei anderen Verfahren: Fahrer, die die Kameras wahrnehmen, bremsen auf die erlaubte Geschwindigkeit runter und beschleunigen wieder, wenn sie den Blitzer passiert haben. Damit wirkt auch die Maßnahme nur punktuell; Unfälle aber häufen sich selten nur an genau einer Stelle, eher an einem Teilstück.

Bei Section Control müssen sich Fahrer über eine längere Strecke hinweg darauf konzentrieren, das Maximaltempo einzuhalten - überwacht von der 450 000 Euro teuren Anlage, die von der Polizeidirektion Hannover betrieben wird. Und auch wenn das Ganze ein Projekt ist, sind alle Messungen rechtsgültig: "Wir wollten im Echtbetrieb prüfen, messen und ahnden. Nur so kann man die Wirkung auf die Verkehrssicherheit evaluieren", sagt Thomas Buchheit, Verkehrssicherheitsexperte im Innenministerium in Hannover.

Der Weg dahin dauerte allerdings zehn Jahre. Auf dem Verkehrsgerichtstag 2009 in Goslar empfahl ein Arbeitskreis, die Abschnittskontrolle zu testen. Doch erst 2014 griff die hannoversche Polizei die Idee auf; Jenoptik gewann letztlich die Ausschreibung für den Bau der Anlage, die 2018 von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) zugelassen wurde. Dann klagte ein Autofahrer gegen die Polizeidirektion und bekam vor dem Verwaltungsgericht recht: Es fehlte eine Ermächtigung, alle Fahrzeuge zu erfassen, unabhängig von ihrer Geschwindigkeit. Im Mai 2019 wurde das Landespolizeigesetz geändert, daraufhin hob das Oberverwaltungsgericht das Verbot auf.

Der Spitzenreiter wurde mit 152 Stundenkilometern erwischt

Nun läuft Section Control seit Mitte November. Und obwohl die Anlage beschildert und gerade tagsüber gut erkennbar ist, hat sie, Stand 2. März, schon 497 Verstöße registriert. Der Spitzenreiter war mit 152 Stundenkilometern auf der Strecke unterwegs - 147 nach Abzug der Toleranz. Das kostet 160 Euro, bringt zwei Punkte in der Flensburger Verkehrssünderdatei und einen Monat Fahrverbot. Unfälle gab es seit der Scharfschaltung nicht.

Kritiker befürchten, dass die Technik missbraucht werden könnte. Schließlich gibt es bei der Polizei und in der Politik Begehrlichkeiten, Kennzeichendaten für Fahndungen und Grenzkontrollen zu nutzen. Das hatten schon die Experten in Goslar 2009 ausdrücklich ausgeschlossen. Auch technisch sei das nicht möglich, betont Jenoptik-Experte Schiffer: "Die Anlage ist in sich abgeschlossen und nur für die Geschwindigkeitsüberwachung einsetzbar. Für etwas Anderes ist sie auch nicht zugelassen." Sollte jemand versuchen, die Anlage zu beschädigen, löst sie einen Alarm aus. Würde jemand den Serverschrank öffnen, werden alle Daten gelöscht.

Die Polizei Hannover hat damit "eine komplett durchgetestete, durch die PTB zugelassene, geeichte und funktionierende Anlage in Betrieb", so Buchheit. Schon jetzt interessieren sich andere Bundesländer für das Projekt, das noch bis Ende des Jahres läuft. Dann muss das Team zwar erstmal dem niedersächsischen Landtag berichten. Buchheit ist aber "sehr, sehr zuversichtlich", dass es dabei keine Probleme mehr geben wird. "Alles deutet darauf hin, dass durch Section Control die Verkehrssicherheit erhöht wird."

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