Deutschland schnieft. Die jüngsten Zahlen der Techniker Krankenkasse zeigen: 5,7 Millionen Menschen, die bei der Techniker versichert sind, waren in den ersten neun Monaten dieses Jahres krankgeschrieben – ein Rekord. Ein ähnliches Bild zeichnet eine viel beachtete Statistik, die das Medienunternehmen The Pioneer kürzlich veröffentlicht hat. Laut dieser waren die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer 2022 durchschnittlich an 24,9 Tagen pro Jahr krankgeschrieben. Bei den bezahlten Krankentagen ist Deutschland europaweiter Spitzenreiter. Was sind die Gründe für diese Zahlen und was kann gegen die deutschen Krankenstände getan werden?
Die FDP macht die telefonische Krankmeldung für den hohen Krankenstand verantwortlich und sie will sie überprüfen lassen. Auch die Bundesvereinigung der Arbeitgeber (BDA) fordert eine Abschaffung der telefonischen Krankmeldung. „Lasst uns zurückkehren zum bewährten Verfahren“, sagte BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter der Rheinischen Post. Die Möglichkeit, sich per Telefon krankschreiben zu lassen, war in der Corona-Pandemie eingeführt worden. Im Dezember 2023 beschloss der Gemeinsame Bundesausschuss von Ärzten, Krankenkassen und Kliniken eine dauerhafte Regelung.
Er wolle niemandem vorwerfen, die Regelung auszunutzen. Es gebe aber „eine Korrelation zwischen dem jährlichen Krankenstand in Deutschland und der Einführung der Maßnahme, die als guter Bürokratieabbau gedacht war“, hatte FDP-Parteichef und Finanzminister Christian Lindner unlängst im Rahmen einer Veranstaltung des Verbands der chemischen Industrie in Berlin gesagt. Diese Korrelation existiert, einen kausalen Zusammenhang zwischen telefonischer Krankschreibung und Krankenstand beweist sie aber nicht.
Informationslücke geschlossen
Laut einer aktuellen Untersuchung des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) sei vielmehr die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für die hohen Zahlen verantwortlich. Auch sie wurde im Zuge der Corona-Pandemie eingeführt und sie führt dazu, dass Krankmeldungen sofort vom Hausarzt dem Arbeitgeber und den Krankenkassen gemeldet werden. Zuvor mussten Beschäftigte ihre Krankschreibung selbst einreichen. Die abrupt gestiegenen Zahlen sind also eher die Folge einer geschlossenen Informationslücke als von Menschenmassen, die nun entscheiden sich per Anruf krankzumelden, obwohl sie arbeiten könnten. „Die Debatte um die telefonische Krankmeldung sollte man ad acta legen“, sagt daher Nicolas Ziebarth, einer der Studienautoren vom ZEW.
Auch der Hausärztinnen- und Hausärzteverband verteidigt die telefonische Krankschreibung gegen Kritik. „Die Einführung war aus medizinischer Sicht sinnvoll und ist bisher eine der ganz wenigen erfolgreichen politischen Maßnahmen zur Entbürokratisierung des Gesundheitswesens“, sagte die Co-Vorsitzende des Verbands, Nicola Buhlinger-Göpfarth, der Rheinischen Post. Dies jetzt abzuschaffen, gefährde die Patientenversorgung in den kommenden Monaten mit zahlreichen Infektionserkrankungen. „Die Unterstellungen, dass sich die Menschen mithilfe der Telefon-AU einen schlanken Fuß machen, können wir aus unserer täglichen Arbeit nicht bestätigen.“
Das deutsche System ist großzügig
Ein Problem der Debatte um die Gründe und Lösungen für hohe Krankenstände seien die fehlenden Daten, sagt ZEW-Experte Ziebarth. Es gebe innerhalb Deutschlands keine vergleichbaren Datensätze, bis auf die Zahlen einzelner Krankenkassen, die allerdings „selektiv und unvollständig“ seien. Fehlzeiten von unter vier Tagen würden von den Kassen beispielsweise kaum oder gar nicht erfasst. Die Dunkelziffer derer die wegen Krankheit dem Arbeitsplatz fernbleiben, dürfte also noch über den Rekordzahlen der Techniker Krankenkasse liegen.
Unterschiedliche Sozialsysteme und Arbeitsrechte würden zudem den internationalen Vergleich nahezu unmöglich machen. Das Medienunternehmen The Pioneer hatte Deutschland jüngst als „krank gemeldeten Mann Europas“ betitelt. Der Hintergrund: Bei den bezahlten Krankentagen nimmt Deutschland regelmäßig den europaweiten Spitzenplatz ein. Das liegt allerdings nicht etwa daran, dass in Deutschland tatsächlich mehr Arbeitnehmer krank sind als anderswo. Sondern daran, dass das deutsche System mit der sechswöchigen Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber und anschließendem Krankengeld großzügiger ist als in anderen Staaten.
In Schweden beispielsweise ist der erste Krankheitstag unbezahlt, danach zahlt der Arbeitgeber für 14 Tage 80 Prozent des Lohnes. Wenig überraschend verzeichnet das skandinavische Land weniger als halb so viele bezahlte Krankheitstage wie Deutschland. Eine Vielzahl von Studien legt nahe, dass höhere und langfristige Lohnfortzahlungen die Zahl der Fehltage erhöhen. In Deutschland hatte 1996 eine schwarz-gelbe Regierung unter Helmut Kohl die Lohnfortzahlung auf 80 Prozent reduziert, begleitet von großen Protesten. Kohls Nachfolger, Gerhard Schröder, hatte sie wieder angehoben.
Trotz aller Datenmängel, sagt Ziebarth, könne man einen langfristigen Anstieg der krankheitsbedingten Ausfälle im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre beobachten. Insbesondere bei psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen. Die Unternehmen müssten dafür Lösungen erarbeiten, sagt der ZEW-Wissenschaftler. Beispielsweise, indem sie das betriebliche Gesundheitsmanagement ausbauen.