Technologie:"Quantencomputer werden für Überraschungen gut sein"

Die neuen Rechner könnten künftig Verkehrsströme berechnen: Forscherin Kristel Michielsen erklärt, warum Googles Quantenprozessor ein Durchbruch ist.

Interview von Simon Hurtz

Erstmals kann ein Quantencomputer eine Aufgabe lösen, an der konventionelle Rechner scheitern: Google behauptet, sein Quantenprozessor Sycamore könne in 200 Sekunden eine Berechnung durchführen, für die der schnellste Supercomputer der Welt 10 000 Jahre gebraucht hätte. Viele Forscher glauben, dass damit ein neues Computerzeitalter begonnen habe. Doch es gibt auch Skeptiker wie IBM. Das Unternehmen forscht ebenfalls an Quantenrechnern und sagt, dass Google maßlos übertreibe. Um seinen solchen Computer zu bauen und zu testen, hat Google mit Universitäten und Forschungszentren kooperiert. Dazu zählt das Jülich Supercomputing Centre, wo Professorin Kristel Michielsen das Gebiet der Quanten-Informationsverarbeitung leitet. Sie ordnet die Bedeutung des neuen Rechners ein und erklärt, warum die USA Europa bei der Quantenforschung abgehängt haben.

SZ: Google vergleicht seinen Quantencomputer Sycamore mit dem Flug der Gebrüder Wright. Andere Wissenschaftler sprechen von einem "Sputnik"-Moment. Welchen historischen Vergleich wählen Sie?

Kristel Michielsen: Was Google erreicht hat, ist auf jeden Fall ein Meilenstein. Ich würde im Bereich der Luftfahrt bleiben und Googles Quantenrechner mit einem Heißluftballon vergleichen, der gerade aufsteigt: Er fährt irgendwo hin - nur die genaue Richtung kennen wir noch nicht. Aber dass der Quanten-Ballon überhaupt fliegt, ist der eigentliche Durchbruch. Jetzt müssen wir noch lernen, ihn zu steuern. Das kann dauern, aber ich bin zuversichtlich, dass wir es schaffen werden.

Google spricht davon, die sogenannte Quantenüberlegenheit erreicht zu haben. Was genau bedeutet das?

Der Begriff beschreibt den Moment, in dem man mit einem Quantencomputer etwas berechnen kann, das ein konventioneller Computer nicht mehr berechnen kann. Google hat dafür ein spezielles Experiment entworfen, das sich "Random Circuit Sampling" nennt. Dabei berechnet der Quantenprozessor Zufallszahlen, die einer bestimmten Verteilung aus der Quantenphysik unterliegen müssen. Klassische Rechner würden an dieser Aufgabe, für Quantenschaltkreise ab etwa 48 Qubits, scheitern. Sycamore hat das in dreieinhalb Minuten erledigt. Selbst die schnellsten Superrechner der Welt bräuchten dafür viel länger.

Warum ist ein Quantencomputer so viel leistungsfähiger als ein Rechner, der den Gesetzen der normalen Physik unterliegt?

Ein Quantencomputer macht sich Naturgesetze zunutze, die wir mit den Regeln der Quantentheorie beschreiben. Das ermöglicht es, dass sich mehrere Zustände überlagern. Bits, mit denen klassische Rechner arbeiten, sind binär: Sie können immer nur 0 oder 1 darstellen. Ein Qubit muss sich aber, während der Rechner arbeitet, nicht für einen der Werte entscheiden. Es kann sozusagen beide Werte auf einmal repräsentieren. Die Zahl der möglichen Zustände steigt mit zunehmender Anzahl von Qubits daher exponentiell an. Sycamore hat 53 Qubits, also 2^53 Möglichkeiten. In der Quantentheorie sprechen wir von Quantenparallelismus.

Kristel Michielsen Quantencomputer

Kristel Michielsen leitet am Jülich Forschungzentrum die Quanten-Informationsverarbeitung. Die Professorin und ihre Wissenschaftler haben Google geholfen: Sie überprüften mit einem eigenen Supercomputer die Berechnungen.

(Foto: Ralf-Uwe Limbach/oh)

IBM, das ebenfalls an Quantenrechnern forscht, ist skeptisch. Konventionelle Superrechner bräuchten für die Berechnung nicht 10 000 Jahre, sondern zweieinhalb Tage. Was sagen Sie zu der Kritik?

Leider habe ich noch keine Zeit gehabt, den Artikel in Ruhe zu lesen. Aber eine Sache ist mir bereits aufgefallen: IBM hat nur Abschätzungen gemacht. Sie haben nicht gezeigt, dass man die Berechnung tatsächlich in so kurzer Zeit durchführen kann. Außerdem bräuchte man dafür enorm viel Speicherplatz und müsste eine Menge Daten hin- und herschieben. Ich weiß nicht, ob das wirklich so schnell möglich ist. Dieser konventionelle Rechner würde auch viel mehr Energie schlucken als ein Quantencomputer.

Wie lief Ihre Zusammenarbeit mit Google ab?

Wir haben Google geholfen, die Berechnung zu überprüfen. Wir haben hier in Jülich einen Simulator für Quantencomputer, der im vergangenen Jahr einen Weltrekord aufgestellt hat: Damals haben wir 48 Qubits simuliert. Für die Zusammenarbeit mit Google haben wir unseren Superrechner Juwels genutzt, um die Leistung von Quantenschaltungen mit 43 Qubits zu prüfen. Auf dieser Grundlage können wir Abschätzungen für mehr Qubits machen. Außer uns haben noch andere Forschungszentren und Universitäten geholfen.

Wie muss man sich als Außenstehender die Szene der Quantenforscherinnen und -forscher vorstellen? Begreifen Sie sich als Konkurrenten, oder ist das eher ein freundschaftliches Miteinander?

An der Stellungnahme von IBM können Sie ja sehen, dass es gewisse Spannungen zwischen den Herstellern gibt. Das klingt nicht nach inniger Freundschaft. Unter den Wissenschaftlern ist die Konkurrenz aber auf einer sehr kollegialen Ebene, der übliche ständige Wettlauf und gleichzeitig auch enge Zusammenarbeit. Davon profitieren alle.

Hat Google die Konkurrenz mit Sycamore abgehängt?

Es sieht so aus, als habe Google erst mal die Nase vorn. Das System hat eine beeindruckend geringe Fehlerrate, andere haben das noch nicht geschafft. Theoretisch können die Konkurrenten nachziehen, aber die Frage ist, wie lange das dauert. Google hat definitiv eine große und wichtige Arbeit geleistet. Was mich besonders freut: Die Daten sind öffentlich zugänglich. Das ist wertvolles Material für Wissenschaftler und Universitäten, die an Quantencomputern forschen.

Shanghai-Autobahn bei Nacht

Wie lassen sich Verkehrsflüsse, wie hier in Shanghai, berechnen? Die Quantentechnologie könnte dabei helfen.

(Foto: Getty Images)

Kann Europa in Sachen Quantenforschung mit den USA und China mithalten?

Aktuell laufen wir ein bisschen hinterher. Es gibt die Initiative "Quantum Technologies Flagship". Dieses Projekt wurde ins Leben gerufen, um den Vorsprung aufzuholen. Der ist entstanden, weil die USA die Forschung früher und entschiedener gefördert haben. In Europa war das verhältnismäßig schlecht koordiniert, da haben viele kleine Gruppen vor sich hingearbeitet. Mittlerweile gibt es aber große Förderprogramme, über die man Anträge für Quantenforschung stellen kann.

Das Experiment, mit dem Google die Quantenüberlegenheit nachgewiesen haben will, hat keinen praktischen Nutzen. Was hilft das dann?

Man muss Algorithmen entwickeln, die eingesetzt werden können, um praktische Probleme zu lösen. Die große Herausforderung ist die Fehlerrate, die muss sinken. Damit die Systeme praxisrelevante Berechnungen durchführen können, müssen sie auch noch wesentlich größer werden. Manche Forscher reden von Millionen Qubits, die nötig wären. Andere sagen, dass schon 100 Qubits reichen könnten, um mehr als nur theoretische Probleme zu bewältigen. Das wäre dann der nächste Meilenstein. Der Quantenrechner müsste dabei gar nicht unbedingt konventionelle Computer abhängen. Wir wären schon froh, wenn ein kleines Quantensystem eine praktische Aufgabe löst. Die Skalierung kommt dann später. Ich bin davon überzeugt, dass der Erfolg mit dem theoretischen Problem viele junge Forscherinnen und Forscher motivieren wird, sich praktischen Problemen zuzuwenden.

Welche konkreten Anwendungen können Sie sich für Quantencomputer vorstellen?

Quantenrechner können Optimierungsprobleme lösen, etwa Verkehrsflüsse in einer Stadt in Echtzeit berechnen oder Satellitenbahnen optimieren. Auch der Bereich des maschinellen Lernens könnte enorm von Quantentechnologie profitieren. Und dann gibt es noch Anwendungen in der Quantenchemie, bei der Moleküle simuliert werden. Das könnte helfen, neue Medikamente zu entwickeln. Die Einsatzmöglichkeiten sind sehr breit.

Jede neue Technologie ruft Befürchtungen und Ängste hervor. Welche Risiken bergen Quantencomputer?

Das Beispiel, das hier immer als erstes genannt wird, ist die Verschlüsselung. Demnach können Quantenrechner bestehende Verschlüsselungsprotokolle brechen, womit viele Daten und Systeme unsicher werden. Ich halte das aber nicht für ein so großes Problem. Schließlich sind wir noch weit von diesem Punkt entfernt. Bis dahin wird es Verschlüsselungsmechanismen geben. Trotzdem wird es dauern, bis die Gesellschaft Quantentechnologie akzeptiert. Aber das Problem hatten wir auch mit konventionellen Rechnern. Hier bedarf es Forschung im Bereich der Technikfolgenabschätzung.

Wird man eines Tages einen Quantencomputer kaufen können, so wie man sich jetzt ein Handy kauft?

Im Moment kann ich mir das nicht vorstellen. Ich sehe Quantenrechner eher in Laboren und Forschungszentren. Aber wenn Sie vor 50 Jahren Menschen erzählt hätten, was wir heute alles mit Smartphones anstellen können, die wir in der Hosentasche herumtragen ... Solche Prognosen altern immer sehr schnell. Quantencomputer werden für Überraschungen gut sein.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: