Arbeitswelt:Wie man Frauen wirklich fördert

Arbeitswelt: Die promovierte Psychologin Ritu Anand arbeitet bereits seit 31 Jahren für TCS, den weltweit zweitgrößten Anbieter von Software-Dienstleistungen und IT-Lösungen.

Die promovierte Psychologin Ritu Anand arbeitet bereits seit 31 Jahren für TCS, den weltweit zweitgrößten Anbieter von Software-Dienstleistungen und IT-Lösungen.

(Foto: David Pfeifer/SZ)

Ritu Anand ist "Chief Diversity Officer" des IT-Konzerns TCS mit 500 000 Angestellten, darunter mehr als 185 000 Frauen. Wenige kennen sich mit Gleichstellung und Diversität besser aus. Ein Treffen.

Von David Pfeifer, Mumbai

Draußen vor den hohen Fenstern kommt der Regen runter, als habe jemand den Indischen Ozean über Mumbai durch ein Sieb geschüttet. Drinnen steht die Konzernzentrale von Tata Consultancy Services (TCS) fast leer. "Man kann sich kaum vorstellen, dass das hier mal eine Chemiefabrik war", sagt Ritu Anand, Diversitätsbeauftrage von TCS. Sie gibt ein paar Anweisungen, wie man nun reinigen und lüften soll, um die modernen Büros und Besprechungszimmer nach der langen Pandemie-Pause wieder in Betrieb zu nehmen. Dann wendet sie sich mit einem breiten Lächeln dem Gast zu. "Wie geht es Ihnen?", fragt sie auf Deutsch. Als junge Frau hat Ritu Anand die Sprache zwei Jahre lang gelernt. Sie kam dann nicht mehr viel dazu, sie im Alltag einzusetzen, aber um ein Gespräch mit einer freundlichen Überraschung zu beginnen, genügt es.

Seit 31 Jahren arbeitet Ritu Anand in dem Konzern, der, als sie anfing, etwa 1000 Menschen beschäftigte, mittlerweile aber über 500 000 Angestellte weltweit hat, davon rund 185 000 Frauen. Allein in der Human-Resources-Abteilung arbeiten heute etwa 3000 Leute. TCS ist nach Accenture der zweitgrößte Anbieter von Software-Dienstleistungen und IT-Lösungen, nur im Westen deutlich unbekannter. In Indien zählt der Konzern zu den modernsten und begehrtesten Arbeitgebern. Er ist auch der größte, wenn man von indischen Staatsbetrieben wie der Bahn und dem Militär absieht - ein Riese auch in Großbritannien, wo TCS ebenso ansässig ist wie in 43 weiteren Ländern. Neun Niederlassungen gibt es in Deutschland, die Zentrale liegt in Frankfurt. Gestern wurde bekannt gegeben, dass TCS für die kommenden fünf Jahre einen Großteil der Anwendungen der Nord LB aus den Bereichen Financial Markets, Wholesale und Retail Banking übernimmt.

Dass weltweit 36,5 Prozent der Angestellten Frauen sind, ist eine enorm hohe Quote, nicht nur für einen Software-Konzern, dessen ist sich Anand bewusst, und sie ist stolz darauf. "Wir haben in der Pandemie noch mal 40 000 neue Leute angestellt."

Zwischen dem europäischen und dem indischen Arbeitsmarkt gibt es große Unterschiede

Man sollte sich den indischen Arbeitsmarkt nicht wie den europäischen vorstellen. Indiens Bevölkerung wächst, was neben Armuts-, Ernährungs- und Hygiene-Problemen auch sehr viele ehrgeizige junge Menschen hervorbringt, die in gute Jobs drängen. Wo sich Hochqualifizierte in Europa ihre Verwendung aussuchen können, drängen in Indien hunderttausend Bewerber auf einen guten Job, alle mit exzellenten Noten und großem Enthusiasmus ausgestattet. Man spricht in dem Zusammenhang von der "Demographischen Dividende" - die OECD nennt als Voraussetzungen hierfür hohe Geburtenraten, einen quantitativ und qualitativ hohen Bildungsstand, einen wachsenden Arbeitsmarkt und sozialen Zusammenhalt. Dass sich die demographische Dividende für die Mädchen und Frauen auszahlt, die im traditionell geprägten Indien generell nicht im Vorteil sind, hat auch mit der Arbeit von Ritu Anand zu tun.

Eine kleine Aufzählung der Posten, die die promovierte Psychologin abdeckt: Ritu Anand ist nicht nur Gleichstellungsbeauftrage sondern auch Vizepräsidentin von TCS, außerdem sitzt sie im Diversitäts-Council der noch größeren Tata-Gruppe, die von Tee über Stahl und Autos nahezu alles herstellt. Zudem spricht sie auf dem World Economic Forum über Diversität und Gleichstellung - es dürfte nicht viele Menschen geben, die sich mit diesen Fragen in den vergangenen 30 Jahren so intensiv im Alltag beschäftigt haben wie sie. Allein schon, weil Anand mittlerweile mehr Mitarbeiter hat als Island Einwohner. Trotzdem oder gerade deswegen ist die Anand sehr aufmerksam und unterhaltsam. Das gehört zu ihren Schlüsselqualifikationen. Sie sagt: "Ich gehe auf mein Gegenüber ein. Männer sind in der Regel eher auf sich konzentriert."

Das allerdings kann nicht der einzige Grund sein, wieso viele Frauen bei TCS arbeiten und die Rückkehrquote nach Elternzeiten bei 95 Prozent liegt. "Bedarf", sagt Ritu Anand. In Indien haben die Eltern einen starken Einfluss darauf, was ihre Kinder studieren. Und sie sehen seit Jahrzehnten, dass der Bereich Informationstechnik rasant wächst. Als qualifizierte Programmiererin kann man die Welt kennenlernen und gut verdienen. Vor etwa 25 Jahren haben Konzerne wie TCS zudem angefangen, Ingenieursschulen und Ausbildung in kleine Städte zu bringen, um Kindern Zugang zu Know-how zu verschaffen und später Talente abschöpfen zu können. "Mädchen können sehr gut mit Zahlen umgehen und verfügen über viel Logik bei der Lösungsfindung", sagt Anand. Gut ausgebildete Frauen werden in Indien häufig Banker, in Europa und den USA auch eher eine Seltenheit.

Wegen der Pandemie arbeiten 95 Prozent der Angestellten momentan im Home-Office

"In Indien haben Ingenieursstudien mittlerweile einen Zulauf von 40 Prozent Mädchen", erklärt sie. "Das liegt daran, dass sie und ihre Familien eine Zukunft darin sehen. Wir stellen etwa 45 Prozent Frauen und 55 Prozent Männer an, keine unserer europäischen Dependancen hat eine ähnlich hohe Quote." Nach der Ausbildung ziehen die jungen Frauen nach Bangalore, Chennai, Mumbai, Pune oder Delhi. In den großen Städten ändert sich das Leben erheblich, kulturell und gesellschaftlich. Auf dem Land ist es auch heute häufig noch so, dass Mädchen die Schule verlassen, wenn sie ihre erste Menstruation bekommen, es herrscht großer Druck in den Familien, dass eine Frau gut verheiratet wird und Mann und Kindern dient. Ein weiteres Problem im modernen Indien ist, wenn hochqualifizierte Frauen in den Großstädten auf Männer treffen, die wiederum von traditionellen Frauen erzogen wurden - im Bewusstsein, den Mittelpunkt der Welt darzustellen, "sagen Sie ruhig des Universums!", ergänzt Ritu Anand. Die Männer kommen häufig nicht klar mit dem Ehrgeiz und der Qualifikation der Frauen. Doch die Akzeptanz steigt.

Der Rest sei fast schon Sogwirkung, sagt Anand. Wenn ein Arbeitgeber erstmal einen guten Ruf hat und Möglichkeiten eröffnet, kommen die Besten von selbst. "Und wir verlieren nur etwa acht Prozent Personal im Durchschnitt." Auch das ist eine bemerkenswerte Quote. Wegen Covid-19 ist der TCS-Campus in Pune und anderen Städten derzeit fast ausgestorben, 95 Prozent der Angestellten sind noch im Home-Office, nach und nach kehren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an die Arbeitsplätze zurück, "die Pandemie hat uns aber einen enormen Entwicklungsschub verpasst", sagt Ritu Anand. "Ich liebe die Möglichkeit, dass ich durch Technik nun jeden erreichen und einbeziehen kann."

Vor Kurzem fragte die Economic Times of India, ob TCS "zu groß für sich selber" werde. Ritu Anand sieht die Größe und den Zusammenhalt als Stärke, die Mitarbeiter werden andauernd geschult, weitergebildet, betreut. Wenn eine Frau sich in den Mutterschutz verabschiedet, wird sie nach einem Monat angerufen, wie es ihr geht, ob sie Unterstützung braucht. Das geht bis zur Paarberatung. Ritu Anand selbst hatte ihren Mann jahrelang nicht mehr als drei wache Stunden am Tag gesehen, in der Pandemie waren sie plötzlich wieder rund um die Uhr zusammen. Wie lief das? "Sehr gut, würde ich sagen. Wir hatten Glück."

Das Home-Office erlaubt Frauen bei TCS eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie

Vor dem weltweiten Ausbruch des Coronavirus gab es bei TCS, wie in vielen Konzernen, keine guten Regelungen für das Arbeiten von zu Hause. Nun wird eine neue Idee ausprobiert: Nur 25 Prozent der Angestellten sollen gleichzeitig in den Büros sein, und nur 25 Prozent der Arbeit sollte in der Firma geleistet werden. Der Rest wird flexibel gehandhabt. Gerade für die Frauen bedeutet das, dass sie nun vieles vereinbaren können, im Home-Office arbeiten und die Kinder betreuen, lernen, sich weiterbilden oder einfach mal um sich selber kümmern. Nicht mehr jeden Tag zur Arbeit fahren; gerade in der notorisch verstopften Hauptstadt Delhi sind mit Transfer schnell mal drei Stunden verbracht.

Aber hat es nicht auch in Indien zu einem Rückfall in alte Zeiten geführt, dass die Frauen sich zu Hause um alles kümmern müssen? "Ich will da nicht unsensibel sein, es gab sicher Probleme. Beziehungen zerbrachen, wir haben auch Menschen mit Angstattacken und Depressionen betreut. Aber wir sind ein Zahlenkonzern, und wenn ich mir die Zahlen ansehe, geben sie mir insgesamt recht", sagt Anand. Schulungen und Betreuungen wurden gesteigert, die Mitarbeiterinnen und die Mitarbeiter wollen sich fortbilden, und auch dafür haben sie nun mehr Zeit. Besonders stolz ist Anand auf das neue Angebot des Eins-zu-eins-Coaching, individuelle Betreuung. Und auf den "Coach-on-Demand", bei dem man anrufen kann, wenn man ein akutes Problem hat, "wir wissen ja nicht, wann wer was braucht". Auch die Männer im Konzern nehmen diese Angebote an. Ihr Management-Programm für Frauen in Führungspositionen wiederum konnte Ritu Anand von 60 auf 125 Teilnehmerinnen erweitern, weil nun alle per Bildschirm zusammengeschaltet werden.

Das einzige Problem, das TCS mit vielen modernen Konzernen teilt: In Führungspositionen sind noch längst nicht genügend Frauen. Auch das wird systematisch erfasst. Der Anteil liegt bei 14 Prozent, "aber der Pfeil zeigt in die richtige Richtung", sagt Anand, "und eine Quote wollen wir nicht. Es wird nach wie vor nur nach Qualifikation eingestellt und befördert". Sie kümmert sich in ihren Seminaren also darum, Selbstbewusstsein aufzubauen, zu fordern und zu fördern, "niemand ist mit Führungsqualitäten geboren, die erwirbt man im Job". Ob sie glaubt, dass Männer auch gewinnen, wenn mehr Frauen in Führungspositionen aufrücken? Sie lacht wieder, "nein, sie werden auch etwas verlieren. Das ist simple Logik". Doch auch hier arbeitet sie mit Zahlen: Wer wie viele Frauen in seinem Bereich angestellt und gefördert hat, all das wird erfasst und zurückgespielt. "Ich diskutiere das lieber nicht, wenn ich es belegen kann", sagt Ritu Anand. Außerdem werde es vorgelebt, von ganz oben, Frauen werden gefördert, weil es dem Konzern nutzt. Und natürlich ist in einem dynamisch wachsenden Betrieb Raum für alle, sich zu bewegen und zu entwickeln. Zudem gibt es immer mehr Männer, die nicht nach den alten Prinzipien arbeiten wollen, nicht Raum nehmen, laut sein oder dominant wirken wollen. Das ist ja auch sehr anstrengend. "Und wir brauchen die Männer als Partner, sonst kann es nicht besser werden", sagt Ritu Anand, bevor sie sich mit einem herzlichen "Auf Wiedersehen" zum nächsten Termin verabschiedet.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: