Es ist 12.04 Uhr, als im Raum "József Antall" in der Brüsseler Dependance des Europaparlaments Applaus aufbrandet. Die Mitglieder des Umwelt- und des Wirtschaftsausschusses des Parlaments haben gerade über ein umstrittenes Gesetz abgestimmt, das Investitionen in Atom- und Gaskraftwerke unter gewissen Umständen für nachhaltig erklärt. Aktien der Betreiberfirmen könnten sich dann von 2023 an auch in Ökofonds wiederfinden. Nun wird das Ergebnis des Votums angezeigt: 76 Abgeordnete wollen den Rechtsakt blockieren, 62 sind mit ihm einverstanden. Damit muss das Plenum des Parlaments in drei Wochen endgültig über dieses Gesetz abstimmen. Dies ist eine der letzten Chancen, das Vorhaben der EU-Kommission noch zu stoppen.
Der Grünen-Abgeordnete Michael Bloss sagt am Dienstag, dies sei "ein guter Tag für Europas Energiewende". Selbst bei den europäischen Christdemokraten, der EVP-Fraktion, finden sich Gegner des Ökosiegels für Atom- und Gasinvestitionen. Der wirtschaftspolitische Sprecher der Fraktion, Markus Ferber, warnt, es gebe unter Anlegern "schlichtweg keinen Appetit" auf Atomkraft und Gas in nachhaltigen Finanzprodukten: "Und am Ende muss der Wurm dem Fisch schmecken und nicht dem Angler." Ohne Akzeptanz unter Investoren werde das Vorhaben der EU scheitern, warnt der CSU-Abgeordnete.
Der SPD-Europaparlamentarier Joachim Schuster spricht von einem "knappen Ergebnis". Im Plenum könnte es für die Gegner noch enger werden, und das liegt auch an den Regeln: Bei dieser Art Abstimmung reicht es nicht, die Mehrheit der Anwesenden hinter sich zu versammeln, sondern es müssen in jedem Fall mindestens 353 Abgeordnete gegen den Rechtsakt votieren - bei 705 Sitzen ist das gerade mehr als die Hälfte. Meistens sind aber nicht alle Parlamentarier anwesend, was es für die Gegner schwieriger macht, die 353 zu erreichen.
Das Gesetz verabschiedete die Kommission bereits im Februar; es gehört zur grünen Taxonomie. Dieses Klassifizierungssystem legt fest, welche wirtschaftlichen Aktivitäten klima- und umweltfreundlich sind. Das soll Greenwashing unterbinden, also die Unsitte, dass Firmen oder Investmentfonds sich als grüner verkaufen, als sie es wirklich sind. Ärger wie gerade bei der Fondsgesellschaft DWS soll vermieden werden. Die Kommission will so das Vertrauen in Öko-Finanzprodukte erhöhen und mehr Anlegergeld anlocken.
Bleibt die Blockade aus, haben Österreich und Luxemburg bereits eine Klage angekündigt
Schon im April vergangenen Jahres präsentierte die Behörde einen Rechtsakt mit Kriterien für viele wichtige Branchen und Güter: insgesamt 170 Aktivitäten, die für 80 Prozent des Ausstoßes an Treibhausgasen stehen. Doch die heikle Frage, was für Atom- und Gaskraftwerke gilt, wurde bis zum Februar aufgeschoben. Bei diesem Gesetz zu Atom- und Gasmeilern handelt es sich um einen sogenannten delegierten Rechtsakt. Er tritt automatisch in Kraft, sofern Europäisches Parlament und Ministerrat, das Gremium der Mitgliedstaaten, nicht binnen vier bis sechs Monaten widersprechen. Abändern können die Politiker das Gesetz nicht mehr. Und die Hürden für eine Blockade sind hoch. Im Ministerrat müssten 20 von 27 Regierungen eine Zurückweisung fordern, was unrealistisch ist. Trotzdem hat die Bundesregierung ihre Ablehnung zu Protokoll gegeben.
Im Europaparlament reicht das "Nein" von 353 Abgeordneten, was einfacher, aber beileibe kein Selbstläufer ist. Zumal die Kommission hofft, dass am Ende eine große Koalition von Gas- und Atomkraftfreunden unter den Parlamentariern eine Blockademehrheit verhindert.
Gegner des Vorhabens setzen jedoch darauf, dass der Überfall auf die Ukraine und der Plan der EU, sich schnell von russischem Gas unabhängig zu machen, bei weiteren Europaabgeordneten Zweifel sät, ob Brüssel wirklich Gas-Investitionen als nachhaltig erklären sollte. Bleibt die Blockade aus, haben die Regierungen von Österreich und Luxemburg bereits Klage beim EU-Gericht angekündigt - dies wäre dann die allerletzte Chance für einen Stopp des Gesetzes.
Am Ende entscheiden die Anleger
Dieser Rechtsakt stellt einen Kompromiss dar zwischen den Interessen atomkraftfreundlicher Regierungen wie der französischen und Regierungen wie der deutschen, denen Gaskraftwerke wichtig sind. Die Kommission begründet ihre Entscheidung damit, dass der Strombedarf kräftig steigen werde, etwa wegen des Siegeszugs der Elektroautos. Investitionen in Kern- oder Gaskraftwerke könnten Regierungen helfen, sich trotz des wachsenden Bedarfs rasch vom Klimakiller Kohle zu verabschieden.
Die Kommission ist sich allerdings des Problems bewusst, dass viele Anleger es seltsam finden würden, wenn ihr Ökofonds Aktien von Atomfirmen enthält. Daher stuft die Taxonomie Atomenergie und Gas nur als sogenannte Brückentechnologien auf dem Weg zu einer klimafreundlichen Stromversorgung ein. Ökofonds müssen klar erkennbar darüber informieren, ob sie ausschließlich Aktien und Anleihen von klassisch grünen Unternehmen beinhalten oder auch Papiere von Gas- und Atomkraftfirmen. Letztlich würde es also in der Hand der Anleger liegen, wie viel Geld aus grünen Fonds an Atommeiler fließt.