Süddeutsche Zeitung

Tarife im öffentlichen Dienst:Was ist gerecht?

Verdi-Chef Bsirske ist stolz auf das Ergebnis der Tarifverhandlungen. Tatsächlich bringen die Gehaltserhöhungen nicht allen Beschäftigten gleich viel.

Kommentar von Detlef Esslinger

Was man den 2,3 Millionen Arbeitnehmern von Bund und Kommunen an diesem Mittag sagen kann, ist: Sie bekommen mehr Geld. Was man auch den 340 000 Beamten des Bundes an diesem Mittag sagen kann, ist: Sie bekommen ebenfalls mehr Geld, und zwar genau so viel mehr wie die Arbeitnehmer.

Und wie viel genau ist das?

Gute Frage.

Auf den ersten Blick hört es sich ganz leicht und für jedermann nachvollziehbar an: Die Gehälter werden rückwirkend zum 1. März um 3,19 Prozent erhöht, sodann im April kommenden Jahres um weitere 3,09 Prozent, und dann im März des übernächsten Jahres nochmals um 1,06 Prozent. Außerdem darf jeder Arbeitnehmer, der den Entgeltgruppen 1 bis 6 angehört, bei der nächsten Gehaltsabrechnung eine Einmalzahlung von 250 Euro erwarten.

Wer aber jetzt zum Taschenrechner greifen will, sollte vorher zum Beispiel die Pressemitteilung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) genau lesen. Dort steht nämlich, dass dies die Gehaltserhöhungen "im Schnitt" seien. Und das weiß auch derjenige, der früher im Mathematikunterricht nicht der Star seiner Klasse war: "Im Schnitt" bedeutet, dass die einen Gehälter um mehr als 3,19 Prozent erhöht werden, die anderen dafür um weniger.

Wer es wirklich genau wissen will, findet auf der Webseite des Beamtenbundes interessante Lektüre. Dort sind alle künftigen Gehälter auf Euro und Cent genau ablesbar, und auch das jeweilige Plus, auf zwei Stellen hinter dem Komma genau. Berufsanfänger zum Beispiel erhalten rückwirkend zum 1. März ein Plus von bis zu 5,70 Prozent. Länger gediente Arbeitnehmer hingegen müssen sich mit knapp 2,89 Prozent zufriedengeben.

Ist das gerecht? Tarifpolitiker stehen immer wieder vor derselben Aufgabe: auf sehr philosophische, sehr grundsätzliche Fragen in Nachtsitzungen Antworten zu finden, die irgendwie handfest und praktikabel sind. Vor allem der Gewerkschaft Verdi ging es darum, etwas für die Niedrigverdiener beim öffentlichen Dienst zu tun; dort hat sie ihre meisten Mitglieder. Dem Beamtenbund, dem Bund und den Kommunen waren die Hochqualifizierten besonders wichtig: Der Beamtenbund hat dort seine Mitglieder, den beiden Arbeitgebern fällt dort die Rekrutierung besonders schwer. Also haben sie ein System von Gehaltserhöhungen beschlossen, das allen Beschäftigten etwas bringt; den Niedrigbezahlten, den Jungen und den Hochqualifizierten jedoch besonders viel.

Verdi-Chef Frank Bsirske sagt, dies sei das beste Ergebnis, das er seit vielen Jahren erzielt habe. Ob dies so ist, mag jeder auf der Grundlage seiner eigenen Gehaltsabrechnung für sich entscheiden. Richtig ist an Bsirskes Behauptung jedoch, dass diesmal das Ergebnis viel näher an der ursprünglichen Forderung ist als sonst oft. Sechs Prozent für ein Jahr forderte er; 7,5 Prozent für zweieinhalb Jahre hat er bekommen - er hat seine Forderung also zu 50 Prozent durchgesetzt.

Derlei war ihm längst nicht immer gelungen, und vielleicht hat dies in der Nacht zu einem kleinen Überschwang bei ihm geführt. Bsirske sagte zum neuen Bundesinnenminister Horst Seehofer, er freue sich auf "noch viele Verhandlungen" mit ihm. Die nächste Runde mit Bund und Kommunen steht nun im September 2020 an. Für September 2019 jedoch hat der dann 67-jährige Bsirske bisher stets seinen Rückzug vom Verdi-Vorsitz angekündigt. Bisher. Aber es ist halt so schön, Gewerkschaftsvorsitzender zu sein.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3949502
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de/jsa
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.