Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Smart Cities:Müllschlucker mit Augen

Lesezeit: 4 min

Eine Retortenstadt nahe der koreanischen Hauptstadt Seoul, ausgezeichnet für moderne Müllentsorgung und bekannt aus dem Video zu "Gangnam Style": Doch Kritiker halten Songdo für steril und an den Menschen vorbei gebaut.

Von Christoph Neidhart, Songdo

Eine Tüte mit brennbaren Abfällen, die zweite mit Lebensmittelresten. Am Samstagmorgen bringt Herr Lee den Müll hinunter, seine Frau steht bereits in ihrem Café beim "Central Park". In der Sammelstelle der Hochhaussiedlung, in der die Lees wohnen, stehen zwei Hightech-Müllschlucker: der grüne für Lebensmittelabfälle, der rote für brennbaren Müll.

Herr Lee hält seinen Personalausweis über den Sensor, die Klappe öffnet sich, er legt die Normtüte hinein, die er im Supermarkt für umgerechnet 50 Cent erhält. Für Glas- und PET-Flaschen, Pappe, Zeitungen und andere Müllsorten stehen in der Sammelstelle weitere Behälter. Darüber warnt ein Schild: "24 Stunden videoüberwacht." Der Müllschlucker kontrolliert über Sensoren, ob Lee den Müll korrekt getrennt und die richtigen Tüten verwendet hat. Akzeptiert der Automat die Abfälle, werden sie durch ein Rohrsystem unter Hochdruck von einer Zentrale angesaugt. So rumpeln keine Müllwagen durch die Planstadt, die zur Drei-Millionen-Metropole Incheon westlich von Seoul gehört und sich "die smarteste der smarten Städte der Welt" nennt.

Anders als Europa und Japan stampft Südkorea noch ganze Städte neu aus dem Boden, die Verwaltungsmetropole Sejong zum Beispiel, die als Hauptstadt vorgesehen war. Mit Geld aus Dubai ist bereits eine nächste "Smart City Korea" geplant. Auf dem New Cities Summit in Songdo im Juni, einem Urbanisten-Kongress, erzählte Tom Murcott von Gale International, dem New Yorker Generalunternehmen: "Im Jahre 2002 flog uns der damalige Bürgermeister von Incheon mit dem Helikopter über Aufschüttungen im Watt vor Incheon. Er zeigte begeistert nach unten: 'Seht ihr da, seht ihr da!' Ich sah gar nichts, aber ich wollte ihn nicht enttäuschen." Dafür erhielt Gale den Auftrag, eine schlüsselfertige Stadt auf eine künstliche Insel zu bauen.

Gale holte Cisco an Bord, die "Klempner des Internets", wie sich der IT-Konzern auch nennt. Binnen eines Jahrzehnts wurden dort, wo Murcott aufs Meer hinunterblickte, für 35 Milliarden US-Dollar Wohn- und Bürotürme auf den aufgeschütteten Boden gebaut. Rund 100 000 Menschen leben bereits in Songdo, etwa 60 000 Arbeitsplätze wurden geschaffen. Große Unternehmen wie der Baukonzern Posco haben sich hier angesiedelt. Songdo soll einmal 600 000 Menschen eine Wohnung bieten.

Cisco vernetzte die neue Stadt und richtete ein Kommunikationssystem ein, das es den Leuten erlaubt, von ihren Fernsehern aus die Verwaltung zu kontaktieren; dazu wurden 300 interaktive Sicherheitskameras aufgestellt, versehen mit einer Notrufanlage. Überwacht wird alles in einem Kontrollzentrum mit gigantischem Datenbildschirm. In Songdo wird der Verkehr zum U-Traffic, die Sicherheit zur U-Safety, die Politik zur U-Governance, die Ausbildung zur U-Education, das Gesundheitssystem zur U-Health; und natürlich gibt es auch U-Unterhaltung. Das U steht für "ubiquitous", allgegenwärtig. Man könnte auch sagen: Big Brother ist überall.

Die achtspurigen Straßen, die Songdo durchschneiden, erinnern allerdings eher an die Städtebauträume von gestern. Auf dem New-Cities-Kongress nannte eine Soziologin Songdo "einen in die Höhe geschossenen Vorort". Das Auto ist König, das E-Auto erst recht, für das bereits Stromzapfsäulen aufgestellt wurden. Immerhin gibt es auch Radwege und überdachte -parkplätze. Und trotz Verbots ziehen Menschen auf dem noch unbebauten Gelände Gemüse.

Im Central Park, von dem Murcott sagt, er bilde das New Yorker Vorbild nach, steht zwischen futuristischen Bauten ein scheinbar tausendjähriger Palast, ein Luxushotel im alten koreanischen Stil. Sonst gibt es wenig Koreanisches in Songdo - außer den Restaurants.

Über eine 21 Kilometer lange Brücke an den internationalen Flughafen Incheon angebunden, war Songdo als Asien-Hub für Multis gedacht. Vier internationale Hochschulen haben hier einen Campus eingerichtet. Gekauft wurden die Wohnungen allerdings vor allem von wohlhabenden Koreanern, auch als Spekulationsobjekte. Frau Lee und ihr Mann sind aus Seoul hergezogen: Die Luft von der See sei gut und die Stadt sicher, sagt Frau Lee. Dazu schätze sie die Nähe zum Flughafen, "obwohl wir nur selten reisen können, aber ich war schon zweimal in Deutschland". Viele junge Familien sind hergezogen. Es heißt, Songdo habe die besten Schulen Koreas. Sicherlich die neuesten.

Eine städtische Angestellte, die nicht hier wohnen möchte, sagt, die Zugezogenen schätzten Songdos internationale Anmutung. "International bedeutet in Korea Erfolg, und Erfolg bedeutet Reichtum." Die Koreaner legen großen Wert auf Statussymbole. In Songdo zu wohnen ist eines.

In den Innenhöfen der Wohnturm-Cluster gibt es Spielplätze und Fitnessstationen, Sitzbänke und bepflanzte Wasserbecken. Mütter fotografieren ihre Kleinen, da und dort sitzen Bronze-Musiker. Songdo wurde als Zukunftsmodell geplant. Nach einem UN-Bericht werden in Indien im Jahre 2050 400 Millionen mehr Menschen in Städten leben als heute, in China fast 300 Millionen mehr, in Nigeria 200 Millionen. Somit brauchen allein diese drei Länder zusammen jeden Monat eine neue Stadt so groß wie München. Kein Wunder, dass chinesische Bürgermeister nach Songdo pilgern, um das Modell zu studieren.

Die Stadt hat eine Auszeichnung bekommen. Doch perfekt ist sie noch lange nicht

Die Meinungen über Songdo sind geteilt. Auf dem New Cities Summit wurde die Stadt als fußgängerfeindlich und steril kritisiert: ein typisches Top-down-Projekt, das kaum nach den Bedürfnissen der Bewohner fragte. Heute beziehe guter Städtebau diese in die Planung ein. Die Stadtväter und Bauherren dagegen feiern Songdo als gebaute Zukunft. Mehr als die Hälfte des urbanen Raumes, den die Menschen im Jahre 2050 bewohnen würden, sei noch nicht gebaut. Deshalb sei es wichtig, dass Baufirmen und Behörden das Richtige machten. Und Songdo habe viel richtig gemacht. Es wird als erste Stadt das sogenannte LEED-Zertifikat erhalten, eine Auszeichnung für den umweltfreundlichen Umgang mit Energie, Transport, Müll und Wasser. Songdo trennt Trinkwasser und Grauwasser, letzteres wird für Bewässerungen, Industrie, öffentliche Toiletten und die Straßenreinigung verwendet.

So perfekt, wie sie sich darstellt, ist die "Instant-Stadt" Songdo noch nicht. Oder schon nicht mehr. Die Müllsammelstelle im Hochhausinnenhof der Lees ist, wie Müllsammelstellen überall, verdreckt. Es stinkt. Im nächsten Hof ist der Hightech-Müllschlucker für die Lebensmittelabfälle blockiert. Und da ihn Big Brother noch nicht entriegelt hat, lassen die Leute ihre Mülltüten einfach daneben stehen. Vor einer anderen Sammelstelle stapeln sich alte Möbel. Auf Nachfrage verraten die Stadtbehörden, bisher sauge das System den Müll vom stolz vorgezeigten Hightech-Schlucker nur zu einer größeren Sammelstelle. Dort wird er kompaktgepresst und dann doch per Lkw weitertransportiert.

Kurz nach Mitternacht sind die breiten Straßen leer, Frau Lee hat ihr Café geschlossen. Da und dort hastet eine junge Frau nach Hause, den Blick aufs Smartphone gerichtet. Ein Junge huscht auf einem Hoverboard vorbei, einem Skateboard mit Elektromotor und Neon-beleuchteten Rädern. Ein junges Paar fährt auf elektrobetriebenen Tretrollern über eine Kreuzung und zwingt damit eine geräuschlos herangleitende Limousine zum abrupten Bremsen. Die Nacht hebt die strikte Trennung zwischen Straße und Menschen auf. Nicht von ungefähr hat K-Pop-Star Psy seinen Video-Clip "Gangnam-Style" in Songdo gedreht - der Künstlichkeit wegen. In einem Zierbächlein zwischen den Hochhäusern quaken immerhin Frösche. Ein wenig Leben erobert die Retortenstadt.

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Quelle:
SZ vom 19.07.2017
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