Allein sein letzter Berufstag: Wie er da, im eigenen Adrenalin schwimmend, eine viertel Milliarde Dollar Verlust einfährt, indem er allein gegen den Weltmarkt wettet. Wie er danach einen Post-it an seinen Bildschirm klebt, auf dem nur steht "I'm sorry", seine ahnungslose Frau abholt, mit ihr in einen Flieger steigt und ihr dann am Pool eine Hotels auf Borneo gesteht, dass er die Barings Bank im Alleingang zerstört hat. Wie er gleichzeitig im fernen England Diana und Charles von den Titelseiten verdrängt, das Pfund auf Talfahrt schickt und das Unterhaus zu einer Krisensitzung veranlasst - kein Wunder, dass Nick Leesons Geschichte verfilmt wurde. Der Film freilich, mit Ewan Mc Gregor in der Hauptrolle, fängt auch nicht ansatzweise ein, wie verrückt, überdreht und dilettantisch die ganze Geschichte wirklich war.
Dabei fing alles recht harmlos an, im Frühjahr 1992. Der junge Nick Leeson reduzierte, kaum angestellt bei der Londoner Barings Bank, die Wertpapieraußenstände der Bank um 90 Millionen Pfund. Begabter Mann, aus einfachen Verhältnissen stammend, 27 Jahre alt, warum sollte man den nicht nach Singapur schicken, um dort sogenannte Arbitrage-Geschäfte zu betreiben. "Wir saßen sozusagen auf dem Zaun", erklärte er in seiner Autobiographie diese Art von Geschäften, bei der man minimale Preisdifferenzen an verschiedenen Börsen ausnutzt. "Wir beobachteten beide Märkte und stiegen nach Belieben mal hier, mal dort ein und aus." Leider reichte es ihm nicht, solch ein Zaungast zu sein. Im Gegenteil. Leeson, der Sohn eines kleinen Stukkateurs, wollte unbedingt das ganz große Rad drehen.
"Teufelsbraten und brillanter Mann"
Er begann selbst mit dem Geld der Bank zu spekulieren, obwohl ihm das strikt verboten war, und stieg im großen Stil in den Derivatehandel ein, indem er auf die Entwicklung von Börsenindizes und Zinssätzen spekulierte. Durch gefälschte Briefe und Faxe täuschte er der Londoner Zentrale Geschäftsbeziehungen zu Dritten vor, in deren Auftrag er die Spekulationen durchführte. Das war ihm deshalb so leicht möglich, weil Leeson Händler und Abwickler in einer Person war. Niemand kontrollierte ihn. Noch als interne Prüfer dringend rieten, jemanden abzustellen zur Überprüfung von Leesons Aktivitäten, winkten die Londoner Manager ab. Das sei "zu teuer". So wusste nur Leeson allein, "was vorne im Börsensaal und hinten im Büro passierte. Wahrscheinlich war ich der einzige Händler auf der Welt, der sich selber kontrollierte.
Im Juli 1992 richtete Leeson ein Konto mit der Nummer 88888 ein; die acht ist im Chinesischen die Zahl des Glücks. Schon im Dezember 1993 hatte er Verluste von 23 Millionen Pfund auf diesem Konto versteckt. Im selben Monat wurde er für seine hervorragende Arbeit vom Londoner Hauptquartier mit einer Prämie von 135 000 Pfund belohnt und in einer Rede jungen Traderkollegen gegenüber als Teufelsbraten und brillanter "Mann mit goldenem Händchen" vorgestellt: Die Gewinne, die er nach London meldete, machten auf dem Papier ein Fünftel des Gewinns der Gesamtbank aus. In Singapur nannten ihn die Kollegen "Lucky Leeson", alle verfolgten, was der Broker in den auffallend bunten Sakkos machte. Die Terminbörse Simex ehrte ihn als besten Händler.
In Wahrheit war er ein unglaublich schlechter Händler. Schon in seinem ersten Monat an der Simex verlor er 60.000 Dollar. Einmal nur, im Juni 1993, konnte er seinen Gesamtverlust (von damals 10 Millionen Dollar) durch tollkühnes Jonglieren in Gewinne verwandeln. Leeson war an dem Abend geradezu euphorisch erleichtert und schwor sich, das Konto 88888 zu schließen. Am nächsten Morgen machte er weiter wie bisher, wettete falsch auf die Zukunft, fuhr Verluste ein und verbuchte sie auf seinem Konto. "Wie ein Roulettespieler, der seine Verluste durch Verdoppeln des Einsatzes wettmachen will, verdoppelte auch ich die Deals."
Am Ende ernährte er sich von Alkohol und Fruchtgummis. Es kursierte der Witz, er würde die Händlerzettel aufessen, wenn er keine Gummidrops zur Hand habe. Er wurde immer häufiger auf dem Klo gesehen und fiel in den Bars durch Pöbeleien auf. Auch im Nachhinein schwärmte er von diesen Zechtouren mit einigen verhaltensauffälligen Freunden, deren Lieblingsbeschäftigung es anscheinend war, jungen Frauen in der Öffentlichkeit den Hintern zu zeigen.
"Dabei war es nur Papier, nicht Milch oder Brot ..."
Als er Ende 1994 aufzufliegen drohte, wollte er seine Verluste kompensieren, indem er auf einen stabilen Verlauf des japanischen Aktienindex Nikkei setzte. Er hatte Pech. Am 17. Januar schickte das Erdbeben von Kobe den japanischen Aktienmarkt auf Talfahrt. Leeson wollte ganz allein gegensteuern und kaufte Tag um Tag wie verrückt japanische Indexfutures. In seiner Autobiographie beschreibt er den Handel am Parkett noch in diesen letzten, unkontrollierten Tagen als rauschhaftes Entgrenzungserlebnis. Über den 23. Februar, an dem er unfassbare 220 Millionen Dollar Verlust machte (Weltrekord für einen Händler), schreibt er: "Ich hatte heute alles gekauft, was der Markt hergab. Ich stand noch immer total unter Strom, hatte Stunde um Stunde mit ausgestreckten Armen herumgefuchtelt, gebrüllt, Händlerzettel ausgefüllt und sie ins Back Office geschickt. Mit einer einzigen Handbewegung konnte ich Papiere im Wert von Millionen kaufen oder verkaufen. Dabei war es nur Papier, nicht Milch oder Brot oder sonst etwas, das man wirklich hätte brauchen können. Es war, als handelte man mit Seifenblasen." Seifenblasen, die einen Markt erschüttern. Und eine 223 Jahre alte Bank zerstören können.
Die Barings: Eine Familie mit großer Vergangenheit
Auf dem Zenit ihrer Geschichte hat die Barings-Bank die Weltpolitik mitbestimmt, 1804 finanzierte sie den britischen Feldzug gegen Napoleon, im Jahr darauf unterstützte sie Thomas Jefferson dabei, Louisiana zu kaufen. Nachdem die Bank der französischen Regierung einmal 315 Millionen Francs geliehen hatte, bezeichnete der Außenminister Armand Richelieu Barings ehrfürchtig als "die sechste Großmacht in Europa."
Diese Bedeutung hatte die Bank Ende des 20. Jahrhunderts längst verloren, die Aura aber war geblieben. Im Hauptsitz umfing den Besucher die Atmosphäre eines Gentlemen Club, Ölgemälde an den Wänden, schwere Sessel. Die Barings gehörten zum Geldadel, zum Zeitpunkt der Krise saßen fünf Familienmitglieder im Unterhaus. Durch die Verbindung der Familie zu den besten Kreisen verwaltete Barings große Vermögen. Die Queen hatte eine Einlage von 140 Millionen Dollar.
Dass sich spätestens in den Achtzigern das ganze Marktgebaren geändert hatte, wollte man bei Barings nicht wahrhaben. Und die Chefs der Bank verstanden anscheinend gar nicht, wie ihr neuer Händler es schaffte, gleich im ersten Jahr zehn Prozent der Gesamteinnahmen des Hauses beizusteuern. "Die Leute am Londoner Ende von Barings sind alle so neunmalklug, dass sie sich nicht trauen, blöde Fragen zu stellen, um bloß nicht dumm dazustehen", ätzte Leeson später.
Die Kontrolleure glaubten bis zuletzt, dass die offenen Positionen Kunden gehörten, für die Barings nur handelte. Am 23. Februar belief sich der Fehlbetrag auf 1,4 Milliarden Dollar. Bevor er sich mit seiner Frau aus dem Staub machte, schrieb er seinem Vorgesetzten, es tue ihm leid, "aber der Druck ist zu stark geworden und hat meine Gesundheit so stark beeinträchtigt, dass ein Zusammenbruch unmittelbar bevorsteht." 48 Stunden später brach dann nicht Leeson, sondern Barings zusammen. Die Bank wurde für genau ein englisches Pfund an die holländische ING-Gruppe verscherbelt. Als ING 2004 seine Anteile an zwei US-Finanzdienstleister weiterverkaufte, verschwand der traditionsreiche Name Barings vom Markt. Nick Leeson hingegen hat sich als Name etabliert.
Leeson wurde in Singapur zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt. Er saß im berüchtigten Gefängnis Changi mit drei Häftlingen in einer Zelle ohne Bett. Seinen Mithäftlingen gegenüber brüstete er sich, nach der Entlassung warte auf ihn "ein Sack voll Geld", gab ihnen gegen Honorar Anlagetipps und vermarktete unter dem reichlich manischen Titel "Wie ich die Barings-Bank ruinierte und die Finanzwelt erschütterte" seine Geschichte.
"Held und Sündenbock"
Als er aufgrund einer Krebserkrankung im Juli 1999 frühzeitig aus der Haft entlassen wurde und nach London zurückkehrte, war das in den Nachrichten die Spitzenmeldung. Schon aufgrund seiner Erkrankung flog er auf einer Welle des Mitleids und der Sympathie ein, viele sahen in ihm aber auch einen Helden und den Sündenbock für das Londoner Establishment, der kleine Arbeiterjunge, der es nach oben geschafft hat und dann für Managementfehler bluten muss . . .
Der Gouverneur der Bank von England nannte die Katastrophe seinerzeit eilfertig "den Schurkenstreich eines Einzelnen". Das stimmt zwar insofern, als Leeson keine aktiven Helfer hatte und auch nicht im Namen irgendwelcher Dunkelmänner agierte. Aber die Bank hatte sich unglaublich benommen. Hätten seine Vorgesetzten auch nur ein einziges Mal Leesons Positionen in Singapur mit denen verglichen, die er nach London durchgab, wäre ihnen alles klar gewesen. Keiner von ihnen wurde belangt. Ron Baker, Leesons Vorgesetzter in London, versuchte gar nach dem Zusammenbruch eine Erfolgsprämie von zwei Millionen Dollar zu erstreiten.
Nick Leeson, der immer ein grottenschlechter Händler war, hatte schon kurz nach seiner Rückkehr seinen ersten Auftritt als Redner. In der historischen Amsterdamer Börse erzählte er etwas über "mein Leben und meine Fehler". Die Veranstalter zahlten für die "Audienz mit Nick" ein Honorar von umgerechnet 100.000 Euro. Eine schwedische Anlagefirma machte ihn zum Star ihrer Fernsehwerbung. Leeson sagte mit süffisantem Lächeln in die Kamera, "Es ist leichter, als man denkt, alles über Nacht zu verlieren. Ich muss es wissen."
Heute ist Leeson CEO des irischen Fußballklubs Galway United und spekuliert in seiner Freizeit mit Spread Betts. Das heißt, er wettet wie in guten alten Zeiten auf Kursveränderungen von Währungen. Das meiste Geld macht er freilich weiterhin als Gastredner mit Vorträgen. Zuletzt hat Leeson, der in den Hochzeiten seines Kamikazeflugs fünf Kilo Fruchtgummi täglich in sich hineinfraß und sich die Fingernägel blutig biss, ein Buch geschrieben. Über erfolgreiche Stressbekämpfung.