Er ist im Moment der bekannteste unter den gescheiterten Spekulanten dieser Welt. Am Ende seiner Karriere jonglierte er mit mehr als 50 Milliarden Euro seiner Bank. Das entspricht mehr als dem Anderthalbfachen des Eigenkapitals der Société Générale. Am Ende macht sie wegen Jérôme Kerviel einen Verlust von 4,9 Milliarden Euro.
Kerviel, geboren am 11. Januar 1977, stammt aus bescheidenen Verhältnissen. Seine Mutter betreibt bis zu ihrer Pensionierung einen Friseursalon in Pont l'Abbé, im Westen Frankreichs in der Bretagne. Der Vater arbeitet bis zu seinem frühen Tod 2006 als Ausbilder in einer Lehrlingswerkstatt. Kerviel kommt erstmals auf dem Gymnasium seines Heimatdorfs mit der Börse in Berührung.
Seine Klassenlehrerin gründet 1994 einen Investorenclub. Das Startkapital beträgt 3000 Francs und kommt von drei Firmen aus der Region. Kerviel und seine Mitschüler spekulieren und gewinnen. Auch im Judo hat Kerviel zeitweise Erfolg. Er holt den blauen Gürtel, muss dann aber aufhören: Die Knie schmerzen. Kerviel ist ein korpulenter Teenager. Sein Spitzname ist "Doppelzentner". Auf Bildern aus seiner Jugend erkennt man den schlanken jungen Händler, von dem kurz nach seinem Auffliegen Fotos im Internet kursieren, nicht wieder.
Er weiß früh, dass er Börsenhändler werden will. Doch der Königsweg ist dem Jungen aus der Provinz im elitären französischen Bildungssystem verschlossen. Er studiert auf mittelmäßigen Universitäten, in Nantes und Lyon. Dort macht er ein Diplom im "Management von Finanzoperationen im Back und Middle Office". Diese Offices sind zur Kontrolle von Händlern da, wie er später einer wird.
"Das Ganze machte Lust auf mehr"
Seinen weiteren Werdegang schildert Kerviel den Ermittlern der Pariser Staatsanwaltschaft Ende Januar 2008 so: "Im August 2000 bin ich zur Société Générale gekommen, als Mitarbeiter im Middle Office. Diese Funktion habe ich (...) 2002 aufgegeben. Damals hat man mir vorgeschlagen, zum Assistant Trader aufzusteigen. (...) 2004 wurde ich als Assistent einer Abteilung zugewiesen. Da ich in einer Reihe mit den Händlern saß, begann ich mich mehr und mehr fürs Trading zu interessieren. Anfang 2005 wurde ich offiziell Händler, ein Posten, den ich bis letzte Woche innehatte. Am Sonntag, den 20. Januar, sagte mir der Leiter der Abteilung, ich sei entlassen." Was sich zwischen 2005 und dem 20. Januar 2008 ereignete, fasst Kerviel mit einem Satz zusammen: "Ich befand mich in einem Strudel, aus dem ich nicht mehr herausfand."
Dieser Strudel zieht vom Sommer 2005 an seine Kreise. Kerviel setzt auf ein Fallen der Allianz-Aktie. Der Zufall spielt ihm in die Hände. Im Juli 2005 explodieren in der Londoner U-Bahn Bomben, die Aktienkurse rasen weltweit in den Keller. "Das bedeutet für mich einen Jackpot von 500.000 Euro", sagt Kerviel.
"Das Ganze machte Lust auf mehr. Da kam es zu einer Art Schneeballeffekt." Kerviel ist einer der am schlechtesten bezahlten Händler in der branchenweit geschätzten Abteilung Delta One der Société Générale. Im Jahr verdient er 48.500 Euro, Anfang 2007 erhält er einen Bonus von 50.000 Euro. Kerviel will mehr.
Im März 2007 geht Kerviel aufs Ganze. Er wettet darauf, dass der Deutsche Aktienindex Dax fällt, und kauft für 30 Milliarden Euro ungesicherte Terminkontrakte, bisweilen in zwei Stunden mehr als 6000. Zwischen dem 15. März und dem 23. Juli sind es mehr als 150.000 Kontrakte insgesamt. Im Back und Middle Office schrillt der Alarm. Die Kontrolleure fragen nach, verlangen von Kerviels Chefs Belege. Die ermahnen Kerviel, doch der weicht aus, vertröstet auf einen späteren Zeitpunkt. Fälscht Briefköpfe angeblicher Vertragspartner. Storniert Geschäfte, bevor sie fällig werden, und schließt sofort neue ab.
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Niemand forscht ernsthaft nach
"Niemand ergreift die Initiative, die Richtigkeit von Kerviels Angaben zu überprüfen, obwohl diese unglaubwürdig erscheinen", heißt es später in einem internen Untersuchungsbericht. Vielleicht auch, weil Kerviel nach anfänglichen Verlusten wieder Glück hat und deswegen auch seine sieben Kollegen am Handelstisch auf höhere Boni hoffen dürfen. "Ende Juli 2007 gerät der Markt in den Sog der US-Hypothekenkrise", erinnert sich Kerviel, "und das Pendel schlägt um. Mein Gesamtresultat klettert steil nach oben, auf 500 Millionen Euro." Der Betrag lässt auf eine unerlaubt eingesetzte Riesensumme von 30 Milliarden Euro schließen. Es kommt zu einer bizarren Situation: Kerviel macht einen Riesengewinn, muss ihn aber kaschieren.
Fortan verbringt er täglich mehrere Stunden damit, Transaktionen zu fingieren, angebliche Verluste zu machen und Kontrakte mit erfundenen Geschäftspartnern zu fälschen. Dazu loggt er sich in die Computer seiner Kollegen ein, kommt morgens als Erster ins Großraumbüro und geht abends als Letzter. Auf Urlaub verzichtet er. Gesprächig ist er eh nicht. Er lebt allein, nahe der Arbeit, in einer kleinen Wohnung. Eine Nachbarin erzählt, Kerviel habe, wenn sie ihren Hund ausführte, "Guten Tag" vor allem in Richtung Hund gesagt. Freunde hat er wenige. Mit einem Kollegen geht er in schicke Bars.
Derweil fragen immer häufiger die internen und bald auch externen Kontrolleure nach, zum Beispiel Prüfer der Handelsüberwachungsstelle der Börse Eurex in Frankfurt. Doch seine Vorgesetzten schreiten nicht ein. "Ihre Passivität hat mich ermutigt weiterzumachen", sagt Kerviel. So wächst Kerviels Gewinn bis zum 31. Dezember 2007 auf 1,4 Milliarden Euro. Sein Assistent gratuliert ihm per E-Mail zu der unglaublichen Summe. Sein Arbeitgeber erfährt nichts davon. Kerviel deklariert lediglich einen Gewinn von 55 Millionen Euro, mehr als alle seine sieben Kollegen am Handelstisch zusammen. Er fordert einen Bonus von 600.000 Euro. Die Bank verspricht ihm die Hälfte.
Doch die wird er nie erhalten, wegen eines dummen Fehlers. Kerviel ändert zunächst Anfang Januar 2008 die Strategie, setzt auf steigende Kurse und erhöht den Einsatz auf 50 Milliarden Euro. Wieder schrillt der Alarm, 75-mal insgesamt.
Kerviel als Held der Anti-Kapitalisten
Wieder Nachfragen. Wieder fälscht Kerviel Dokumente. Doch diesmal gibt er als Gegenpartei die für eine Transaktion in dieser Größe viel zu kleine Baader Bank in Deutschland an. Irritation, Nachfragen. Kerviel sagt, Baader handele im Auftrag der Deutschen Bank und fingiert eine E-Mail der Deutschen Bank. Im Glauben, sich abermals aus der Affäre gezogen zu haben, fährt er am Wochenende des 19./20. Januar nach Deauville, dem schicken Küstenort in der Normandie.
Doch nun nimmt das Unheil seinen Lauf. Endlich ruft ein Kontrolleur am Samstag einen Bekannten bei der Deutschen Bank in New York an. Von einem Jérôme Kerviel hat dieser noch nie etwas gehört. Um 16.30 Uhr erreicht die Nachricht Bankchef Daniel Bouton auf seinem Landsitz in Chantilly. Kerviel wird für 18.30 Uhr in die siebte Etage des Bankturms in La Défense in Paris beordert. Um elf Uhr am Sonntagvormittag erfährt Bouton erstmals von offenen Positionen in Höhe von 50 Milliarden Euro.
Es geht um die Existenz der 1864 gegründeten Bank. Bouton weiht als einzigen Außenstehenden den Präsidenten der französischen Notenbank ein und beauftragt Maxime Kahn, seinen besten Händler, mit dem Verkauf von Kerviels Kontrakten. Doch am Montag, Dienstag und Mittwoch fallen die Aktienkurse so stark wie seit dem 11. September 2001 nicht mehr. Am Donnerstag gibt Bouton vor der Presse einen Verlust von 4,9 Milliarden Euro bekannt, Kerviels Gewinn von 1,4 Milliarden inbegriffen.
Bouton stellt ihn als destruktiven, kleinen Händler dar und verwendet den Begriff Terrorist. Im Internet wird Kerviel zum Helden von Anti-Kapitalisten. T-Shirts, Bücher und Lieder über ihn werden verkauft. Kerviel sucht sich Anwälte und zieht zu einem Mann, der sein Vater sein könnte: Jean-Raymond Lemaire. Die Bank erstattet Anzeige. Kerviel kommt in Polizeigewahrsam. 37 Tage sitzt Kerviel in dem berühmt-berüchtigten Gefängnis La Santé ein. Ein langes Ermittlungsverfahren beginnt. Im Sommer 2008 werden Kerviels Vorgesetzte entlassen, auch Bouton muss mit dem Posten des Aufsichtsratsvorsitzenden vorliebnehmen. Kerviel fängt derweil an, in Lemaires Informatikberatungsfirma zu arbeiten. Er verdient 4000 Euro im Monat und bereitet sich auf seinen Prozess vor.