SZ-Serie: Die großen Spekulanten (39):Der Reishändler

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Im 18. Jahrhundert spekulierte Munehisa Homma mit dem japanischen Hauptnahrungsmittel - und wurde so zum Samurai und Finanzberater des Kaisers.

Philipp Mattheis

Der stille Mann, der in der Reisbörse von Dojima, nahe der japanischen Stadt Osaka, sitzt, scheint mehr zu wissen, als seine Händlerkollegen. Schon den dritten Tag in Folge kauft er Reisballen bei den vielen Reisbauern, die aus dem Landesinneren gekommen sind, um ihre Waren anzubieten.

Der Japaner Munehisa Homma handelte mit Reis und wurde mit seinen Spekulationen sehr reich. (Foto: Abbildung: SZ-Grafik)

Munehisa Homma besitzt selbst große Reisfelder, doch er hat sich auf den Handel spezialisiert. Immer wieder studiert er sonderbare Zeichen, die er auf dünnes Reispapier gezeichnet hat. Es sind Symbole, die entfernt an Kerzen erinnern: Ein rechteckiger Körper, den manchmal eine Art Docht ziert, welcher nach unten oder oben ragt. Es ist Hommas wertvollster Besitz. Und es ist seine eigene Erfindung. Sie und Hommas Geschick werden ihn zum reichsten Mann Japans machen und ihn in den Adelsstand verhelfen.

Bedeutendes Vermächtnis

Am vierten Tag trifft ein Bote aus dem Landesinneren in Osaka ein. Seine Nachrichten sind schlecht: Ein Unwetter hat den Großteil der Ernte vernichtet. Sofort beginnen die Händler an der Reisbörse in Dojima, Reis zu kaufen. Nur: Es gibt keinen mehr. Alle Lieferanten haben bereits an Homma verkauft. Die Preise für Reis schnellen in die Höhe. Homma hat innerhalb von vier Tagen Japans gesamten Reismarkt unter seine Kontrolle gebracht.

Als Munehisa Homma 1803 stirbt, ist er zum Samurai ernannt worden und war als Finanzberater der kaiserlichen Regierung tätig. Sein Vermächtnis, die so genannten "Candlestick-Charts", zählt heute zu der adäquatesten Darstellungsform des Marktgeschehens.

Munehisa Homma wird 1724 in Sakata, im Nordwesten von Japans Hauptinsel Honschu, als Sohn einer wohlhabenden Familie geboren. 1750 übernimmt er das Familienunternehmen. Zunächst konzentrieren sich seine Handelsaktivitäten auf die Reisbörse der Hafenstadt Sakata, später zieht er nach Osaka, dem damaligen Zentrum des Reishandels. Dort befindet sich seit dem späten 17. Jahrhundert die Reisbörse des Landes. Mit dem Shogunat Tokuwagas ist die Zeit der Kriegswirren in Japan zu Ende gegangen. Japan ist geeint und wird von Feudalherren, den Damyos, bis zum Jahr 1867 beherrscht. Diese Epoche, die längste Friedensperiode in der Geschichte Japans, ist als "Edo-Zeit" bekannt.

Reisbörse in der "Küche Japans"

Die Agrarwirtschaft und der Binnenhandel erstarken. Schließlich bildet sich ein neuer nationaler Markt, der die vielen kleinen, lokalen Handelszentren ersetzt. Mittelpunkt des Geschehens ist die Hafenstadt Osaka, die den Beinamen "Küche Japans" erhält. Aus dem ganzen Land liefern die Reisbauern ihre Ernte nach Osaka, um sie dort an den Meistbietenden zu verkaufen. Etwa 1300 Händler gehen dort täglich ihren Geschäften nach. Reis ist nicht nur das Hauptnahrungsmittel, es ist auch Zahlungsmittel - die meist armen Bauern müssen ihre Steuern in Form von Reis an die Feudalherren bezahlen.

Bis zum Jahr 1710 wird in Dojima Reis gegen Waren wie Seide oder Tee getauscht. Eine offizielle, einheitliche Währung kann sich noch nicht durchsetzen. Nur: Einige Daimyos brauchen sofort Geld beziehungsweise Waren - noch bevor sie die Ernte von ihren Bauern eingetrieben haben. Warenhäuser beginnen nun, anstatt von Reis auch Schuldscheine zu akzeptieren, die eine Lieferung erst Monate später garantieren. Ab dem Jahr 1710 werden an der Reisbörse auch Lagerscheine gehandelt. Diese Reiskupons werden schnell zu einer Ersatzwährung.

Lesen Sie im zweiten Teil, wie in Japan früher mit Reiskupons gehandelt wurde - und warum Hommas Candlestick-Charts auch heute noch in der Fachliteratur auftauchen.

Ist ein Feudalherr in Geldnot, kann er seine Waren nach Osaka schicken und erhält im Gegenzug eine Quittung. Die kann er im ganzen Land wieder eintauschen. Manche Daimyos verpfänden aus Geldmangel ihre Reisernte über Jahre im Voraus. Mit den Reiskupons wird an der Börse in Dojima rege gehandelt. Die Papiere versprechen eine Reislieferung, die erst in der Zukunft erfolgt. Sie sind standardisierte Verträge über ein Geschäft, bei denen Menge, Preis und Lieferdatum bereits festgelegt sind. Das verschafft sowohl dem Reisbauer als auch dem Händler Planungssicherheit.

So verpflichtet sich zum Beispiel ein Händler mit dem Kauf eines Reiskupons im nächsten Frühjahr 100 Ballen Reis von einem Bauern aus dem Landesinneren zu einem vorher festgelegten Preis zu kaufen. Liegt der Marktpreis im Frühjahr über dem vereinbarten, macht der Händler einen Gewinn. Notiert der Reispreis darunter, erleidet er einen Verlust. Der Reisbauer jedoch weiß, dass er in jedem Fall einen Abnehmer für seine Waren und dabei kein Kursrisiko hat. Die Reiskupons sind die ersten Warenterminkontrakte der Welt und die Reisbörse von Dojima vor Amsterdam, London und New York die erste Terminbörse.

Junger Familienunternehmer

Die ersten Jahre werden in Dojima von diesen Kupons genau so viele gehandelt, wie tatsächlich an physischem Reis in Umlauf ist. Dann kommt es zu einer Entwicklung, die heute nahezu alle Derivate-Märkte kennzeichnet: Es kommen mehr Terminkontrakte in Umlauf, als tatsächlich existieren. Im Jahr 1749 wechseln 110.000 "leere" Reiskupons den Besitzer. Zur selben Zeit existieren in ganz Japan nur 30.000 Ballen Reis.

In diesem Umfeld übernimmt Munehisa Homma 1750 die Geschäfte seines Familienunternehmens. Eigentlich ist er als der jüngste Sohn seines Vaters gar nicht berechtigt dazu, doch Homma hat sich durch seine Intelligenz und sein Geschick hervorgetan. Auch er beginnt, mit Reisterminkontrakten zu handeln. Homma ist Spekulant, ihm geht es um schnellen Gewinn. Er weiß: Information ist Geld. Wer auf dem Markt etwas vor der Konkurrenz erfährt, ist im Vorteil. Würde er selbst vor den anderen wissen, ob die Ernte dieses Jahr besonders schlecht ausgefallen ist und deswegen ein Preisanstieg zu erwarten ist, könnte er als erster billigen Reis einkaufen und nach Eintreffen der Nachricht teuer verkaufen.

Hommas Familie besitzt bereits riesige Reisfelder - dadurch gelangt der Spekulant in den Besitz privilegierter Informationen. Nur wie übermittelt man diese nach Osaka? Die Reisfelder der Familie liegen in Sakata im Nordwesten der Insel. Pferde sind zu langsam und außerdem nicht schneller als die der Konkurrenz. Homma beginnt mit dem Aufbau eines Kommunikationssystems. Eine Kette bestehend aus Menschen übermittelt mit farbigen Flaggen Informationen über die Ernte von Sakata bis nach Osaka - eine Distanz von 600 Kilometern. 150 Menschen sind dafür notwendig, um von Hausdächern und Türmen zu einer bestimmten Tageszeit die Kursinformationen weiterzuleiten.

Star mit Verspätung

Doch damit ist Homma noch nicht zufrieden. Sein Interesse gilt den historischen Marktbewegungen. Er beginnt, alle vorhandenen Aufzeichnungen über die Kurse des japanischen Hauptnahrungsmittels zu studieren. Zusätzlich beschäftigt sich Homma mit Wetterdaten der vergangenen Jahre. Er glaubt, in den Kursbewegungen Muster erkennen zu können, die sich stets aufs Neue wiederholen. Schnellt der Kurs zum Beispiel an einem Handelstag nach oben, schließt am Ende des Tages, aber just zum selben Preis wie am Morgen, so deutet das auf fallende Kurse hin. Nach und nach gelingt es Homma, ein visuelles System zu erarbeiten, das all diese Kursinformationen auf einen Blick zeigt.

Homma Munehisa wird der Erfinder der sogenannten Candlestick-Charts. Im Unterschied zum europäischen Linienchart zeigen die Kerzen nicht nur den Schlusskurs eines Tages an, sondern gleichzeitig Eröffnungs-, Tief- und Höchstkurs. Seine Erkenntnisse hält Homma schriftlich fest. Man geht davon aus, dass Homma der Autor der Bücher "Sakata Senho" und "Soba Sani Ni Den" ist, in denen es um die grundlegenden Prinzipien der Marktwirtschaft und des Börsenhandels geht. Nach seinen Erfolg an der Börse von Dojima, geht Homma nach Edo, dem heutigen Tokio. Dort, so wird erzählt, soll er 100 erfolgreiche Transaktionen hintereinander getätigt haben. Als er 1803 als adeliger Samurai stirbt, lautet sein Beiname "Gott der Märkte".

Es vergehen knapp 200 Jahre, bis das Leben Homma Munesihas und seine Erfindung im Westen bekannt werden: Anfang der Achtziger wird ein junger amerikanischer Händler von einem Freund auf die japanische Darstellungsmethode aufmerksam gemacht. Fasziniert von der Einfachheit und Klarheit der Candlesticks beginnt Steve Nison mit einer Jahre dauernden Recherche. 1989 erscheint schließlich ein Buch, dass die Candlesticks des Munehisa Homma einer breiten Öffentlichkeit zugänglich macht. Innerhalb der nächsten zehn Jahre erobern die japanischen Kerzencharts den Westen. Heute sind sie nahezu in jedem Chartprogramm enthalten.

© SZ vom 28.10.2008/tob - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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