SZ-Serie: Die großen Spekulanten (33):Der Turtle-Chef

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Der Rohstoffspekulant Richard Dennis bildete Trader aus "wie Schildkröten in Singapur". Damit ist er an den Finanzmärkten reich geworden - trotz vieler Krisen.

Philipp Mattheis

Ist Erfolg an der Börse Zufall? Wenn nicht, welche Regeln muss ein Spekulant befolgen, um erfolgreich zu sein? Hat jeder das Zeug zum Spekulanten? Richard Dennis, studierter Philosoph, ist sich sicher: "Ja, jeder kann es zum Börsenmillionär bringen." Sein Freund und Kollege, der Mathematiker William Eckhardt widerspricht: "Wer dauerhaft an der Börse Geld verdient, verfügt über eine Art Intuition." Die besitzen nur wenige und erlernen lasse sie sich erst recht nicht.

"Wir werden Trader züchten wie Schildkröten in Singapur", sagt der massige und öffentlichkeitsscheue Richard Dennis, von dem kaum ein Foto existiert. (Foto: Bild: Stefan Dimitrov)

Kostspieliges Experiment

Dennis und Eckhardt kennen sich seit der High School und sind beide an der Börse reich geworden. Sie entschließen sich zu einem kostspieligen Experiment, das zeigen soll, wer recht hat. In den nächsten Wochen schalten sie Anzeigen in großen Tageszeitungen wie der New York Times und der Washington Post. "Traders wanted" steht dort. Eine Handvoll Börsenneulinge soll in kürzester Zeit zu Topspekulanten ausgebildet werden und anschließend mit sechsstelligen Beträgen handeln.

"Wir werden Trader züchten wie Schildkröten in Singapur", sagt der massige und öffentlichkeitsscheue Mann, von dem kaum ein Foto existiert. Im Dezember 1983 treffen sich schließlich die ersten zehn Lehrlinge in einem Handelsraum in Chicago. Mit einem simplen Wahr/Falsch-Test hat Dennis sie unter 1000 Bewerbern ausgewählt. Darunter sind ein Schachgroßmeister, ein Entwickler von Fantasyspielen, zwei professionelle Spieler und der 19-jährige Schulabgänger Curtis Faith, der später ein Buch über die mysteriöse Gruppe schreiben wird. Es ist die Geburtsstunde der "Turtles".

Der Mann, der die Turtles trainiert, meint zu wissen, wovon er spricht. Er ist als "Prince of the Pit" bekannt. Als "Pit" bezeichnet man den kleinen Unterstand, den die Börsenhändler auf dem Parkett haben. Dennis wird im Jahr 1949 geboren und wächst in Chicago als Sohn eines Ingenieurs auf. Mit 17 arbeitet er als Laufbursche an der Chicago Mercantile Exchange für 1,60 Dollar die Stunde. Seinen Wochenverdienst von 40 Dollar verspielt er anschließend. Da er noch nicht volljährig ist, muss sein Vater für ihn die Order ausführen. Geld verdient Dennis keines: "Bis zu meinem 21. Geburtstag habe ich jeden Fehler, den man an der Börse machen kann, zehnmal gemacht", sagt er später in einem seiner seltenen Interviews.

Und irgendwann scheint es wirklich genug zu sein mit den Fehlern. Dennis studiert zunächst in Chicago Philosophie, später erhält er ein Stipendium für die Tulane University in Lousiana. Bald aber ist er zurück in Chicago, leiht sich 2000 Dollar von seiner Familie und kauft sich für 1600 Dollar einen Sitz in einer kleinen Nebenbörse, der Mid America Exchange. Mit den restlichen 400 Dollar beginnt er seine Karriere als Spekulant.

Mit 25 Jahren ist er Millionär

Es ist das Jahr 1972, das in die Börsengeschichte als das Jahr des "Great Russian Grain Robbery" eingeht, und Dennis mit einem Schlag reich werden lässt. Sowjetrussland kauft den Amerikanern ganze Schiffsladungen Getreide zu subventionierten Preisen ab. Da die amerikanischen Farmer ohnehin schon Probleme haben, der ständig wachsenden Nachfrage hinterherzukommen, schießen die Preise in die Höhe.

Dennis setzt weiterhin auf steigende Kurse. Mit 25 ist er Millionär. Anfang der 80er Jahre sind aus seinen 400 Dollar Startkapital 200 Millionen Dollar gemacht. 1984 zählt Dennis zu den einflussreichsten Rohstoffspekulanten der Welt. Er ist gerade 35 Jahre alt. Gerüchte, laut denen Dennis gerade kaufe oder verkaufe, reichen aus, um die Kurse an den Märkten zu bewegen. Dennis selbst ist überzeugt: Sein Erfolg beruht auf einem System und das will er seinen Schildkröten beibringen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: die Offenbarung der erfolgreichen Turtle-Methode.

Die Turtles müssen einen Vertrag unterschreiben, der sie für die nächsten 20 Jahre zu strikter Geheimhaltung verpflichtet. Zwei Wochen lang werden sie vom "Prince of the Pit" persönlich unterrichtet. Danach drückt er jedem von ihnen 100.000 Dollar in die Hand und lässt sie handeln.

Aus 100.000 Dollar mach' 178.000

Faith macht in den ersten Wochen aus 100.000 Dollar sagenhafte 178.000. Die anderen Turtles verdienen etwas weniger, Verluste aber macht keiner von ihnen. So geht es weiter in den nächsten Jahren. Durchschnittlich kommen die Schildkröten auf eine Performance von 80 Prozent im Jahr. Sie erhalten eine Gewinnbeteiligung, die wiederum abhängig von ihrer Performance ist.

Bei Curtis Faith sind es am Ende 30 Prozent, die in seine eigene Tasche wandern. In den folgenden Jahren verdient er etwa 8,5 Millionen Dollar. 2007, als die Schweigepflicht endet, erscheint sein Buch "Die Strategien der Turtle Trader; Geheime Methoden, die gewöhnliche Menschen in legendäre Trader verwandeln." Es sieht aus, als habe Dennis den Stein der Weisen gefunden und ihn an einen auserwählten Kreis weitergegeben. 1988 endet das Programm. Noch heute werben Websites im Internet mit dem "Original Turtle-System". Nur, dass es immer noch funktioniert, glaubt heute kaum mehr einer.

Dennis Strategie Mitte der 80er ist überraschend simpel. Die Turtles sollen stets in Einklang des vorherrschenden Trends handeln, anstatt zu versuchen, Wendepunkte zu erwischen. "Wenn der Kurs an einem Tag steigt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er am nächsten Tag weiter steigt", sagt Dennis. "Wenn die Kurse eine Woche gestiegen sind, werden sie voraussichtlich eine weitere Woche steigen." Umgekehrt sollen die Turtles in einem Abwärtsmarkt auf weiter fallende Kurse zu setzen.

Was beinahe schon trivial klingt, hat es aber in sich: Hohe Kurse werden instinktiv als "zu hoch" empfunden. Die Masse glaubt nicht, dass sie noch weiter steigen werden. "Wenn die natürliche Reaktion ist, nicht zu kaufen, hielt Dennis genau das für einen Zeitpunkt, um zu kaufen", wird Turtle Curtis Faith später schreiben. Eine anderes Erfolgsrezept lautet: Verluste klein halten, Gewinne laufen lassen. Genau das entpuppt sich als psychologische Massenfalle. Instinktiv neigen Marktteilnehmer dazu, Gewinne zu früh zu realisieren. Ist eine Aktie einmal im Minus, beginnt das Hoffen, auf dass es schon wieder nach oben gehe. Anstatt einen kleinen Verlust zu realisieren, lässt man das Minus zum Totalverlust anwachsen.

Unter jeden Umständen an die Regeln halten

Nach Dennis Methode müssen die Turtles ihre Positionen mit einem kleinen Minus sofort verkaufen. So enden zwar nur relativ wenige Transaktionen in einem Gewinn; diese wenigen "Trades" aber reichen aus, um langfristig eine überdurchschnittliche Performance zu erzielen. Einen Strich durch die Rechnung mache höchstens die eigene Psyche. Deshalb müssen sich die Turtles unter jeden Umständen an diese Regeln halten - wie Odysseus bei den Sirenen, der sich selbst an den Mast binden ließ, müssen sie ihre eigenen Emotionen bezwingen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Rückzug und Comeback wechseln sich ab.

Nur ganz so einfach ist es nicht. Manchmal kehren sich Trends an den Börsen auch um: Schlagartig, ohne Vorankündigung fallen dann die Kurse stärker, als sie jemals steigen würden. Der 19. Oktober 1987 ist so ein Tag. Dennis spekuliert am Terminmarkt mit riskanten Optionen, die kurz vor ihrem Ablaufdatum stehen. Als am Schwarzen Montag die Sonne untergeht, ist der Dow Jones um 22 Prozent gefallen und Dennis um zehn Millionen ärmer.

Verluste über Verluste

Alleine zwischen 1987 und 1988 verliert er über 60 Millionen Dollar. Seine persönlichen Verluste sind kaum geringer als die seiner Kunden, die in die von ihm geleiteten Fonds investiert haben. Seine Investmentfonds sind 1988 bis zu 50 Prozent im Minus. Einen Prozess seiner Kunden gegen ihn, endet mit einem Vergleich. Dennis zahlt 1990 2,5 Millionen US-Dollar.

1988 zieht sich Dennis vorübergehend vom Handel zurück und konzentriert sich fortan auf seine zweite Leidenschaft: Die Politik. Bis heute ist Richard Dennis im Vorstand des liberalen Think Tanks, des "Cato Instituts", zu dessen erklärten Zielen "individuelle Freiheit, eine begrenzte Staatsmacht, freie Märkte und Frieden" zählen. 1991 veröffentlicht er Essay mit Titel "Toward a Moral Drug Policy", in dem er sich für eine liberalere Drogenpolitik stark macht.

Mitte der Neunziger erlebt er als ein Pionier des mechanischen Handels noch einmal ein Comeback mit einem sagenhaften Gewinn von 116 Prozent innerhalb eines Jahres. Nun sagen ihm ausschließlich Computer, wann zu kaufen und wann zu verkaufen ist. "Meine linke Gehirnhälfte hat meine rechte vollkommen ersetzt", sagt er. Doch im Jahr 2000 geht Dennis zum zweiten Mal in den vorzeitigen Ruhestand. Die Verluste seiner Firma Dennis Trading Group Inc. liegen schon wieder bei 50 Prozent. Er zieht sich abermals vom Geschäft zurück. Vorübergehend.

Heutiges Standardrepertoire

Dennis Methode, das strikte Befolgen von Regeln, bei dem menschliche Emotionen komplett ausgeschaltet sind, gehört heute zum Standardrepertoire von Investmentfonds, Banken und Privathändlern. Denn mit der technologischen Revolution der Neunziger Jahre entstanden erstmals die Möglichkeiten, komplexe Handelsstrategien auf ihre Wirksamkeit in der Vergangenheit zu testen.

Heute sind Händler, die ihre Kaufentscheidungen auf Intuition basieren, Ausnahmen. Gefühle wie Angst und Gier will man vom Markt verbannen. Computerprogramme treffen die Entscheidung, wann ge- und verkauft wird. In einem seiner letzten Interviews aus dem Jahr 2004 sagt Richard Dennis, dass er immer noch handle. Am Computer sucht er nach dem perfekten System. Es zu finden, sei "heute zehnmal so schwer wie damals". Aber dass es existiert, daran glaubt er noch immer.

© SZ vom 16.9.2008/kim/tob - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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