SZ-Serie: Die großen Spekulanten (13):Die Hexe der Wall Street

Lesezeit: 5 Min.

Hetty Green, skurril und unbeliebt, war die reichste Frau der Welt. Mit klugen Investments machte sie ein Vermögen, am Ende aber sparte sie sich zu Tode.

Hannah Wilhelm

Ihre letzten Gedanken gelten dem einzigen Sohn Ned und ihrem Vermögen. Sie hat Angst, dass er die Prostituierte, mit der er zusammenlebt, heiratet und das ganze Geld verprasst. Die Millionen von Dollars, die sie so mühsam erarbeitet und erspart hat. Es ist halb acht Uhr morgens am 3. Juli 1916, Hetty Green, 81, liegt schwerkrank im Bett, wenn sie aus dem Fenster schaut, sieht sie die dichten, grünen Baumkronen des New Yorker Central Parks. Eine halbe Stunde später ist sie, die reichste Frau der Welt, tot.

Als ein junges Mädchen sich ein Herz nimmt und sie anspricht: "Wie wird man denn so reich wie Sie?", blickt Hetty Green sie abschätzig von oben bis unten an und sagt: "Gib nicht so viel Geld für Kleidung aus." (Foto: Foto: Hetty Green, Library of Congress, Washington, D.C)

Sie hinterlässt über 100 Millionen Dollar - sorgsam investiert in Immobilien in New York und Chicago, in Wertpapieren, Unternehmen, Kupfer- und Goldminen und in Eisenbahnbeteiligungen. Ein Vermögen, ähnlich dem von John D. Rockefeller und J.P. Morgan. Gemessen an der Kaufkraft, ist Hetty Green reicher als Warren Buffett heute. Doch sie fällt nicht durch Glamour auf, bleibt nicht durch Spenden in Erinnerung. Was bleibt, sind Gerüchte und Geschichten über ihr skurriles, knausriges Leben.

Als Frau keine geeignete Erbin

Mit acht Jahren soll sie ihr erstes Konto eröffnet, mit 13 die Buchhaltung des Familienunternehmens übernommen und mit 21 sich geweigert haben, die Kerzen auf ihrem Geburtstagskuchen anzuzünden: Sie wollte sie am folgenden Tag lieber wieder zurückgeben. Als sie noch vor dem amerikanischen Bürgerkrieg in die Gesellschaft eingeführt wird, bekommt sie von ihrem Vater 1200 Dollar, damit sie sich in New York ein Ballkleid kaufen kann. 200 Dollar gibt sie aus, den Rest spart sie.

Sie hat einen kühlen Verstand und Geschäftssinn. Doch sie ist und bleibt eine Frau - und damit für den Vater kein geeigneter Erbe. Als der reiche Händler stirbt, bekommt sie sein Vermögen von fünf Millionen Dollar nicht ausgezahlt. Stattdessen hat er einen Verwalter eingesetzt, der ihr monatlich eine Apanage zahlt. Kurze Zeit später stirbt auch die Erbtante - doch kurz vor ihrem Tod ändert sie, berauscht von Opiaten, ihr Testament und vererbt fast alles ihrem Arzt. Die 33-jährige Hetty Green ist entsetzt. Sie heiratet und flieht nach London.

Dort macht sie ihr erstes großes Geschäft: Statt die Apanage für ein Luxusleben in der englischen Hauptstadt auszugeben, kauft sie amerikanische Staatsanleihen. Die Regierung Abraham Lincolns hatte sie herausgegeben, um so den Bürgerkrieg gegen die Südstaaten zu finanzieren. 1865 ist der Krieg vorbei, die letzten Truppen der Südstaaten kapitulieren im Juni in Texas. Doch niemand mag recht an den wirtschaftlichen Erfolg des Staates glauben. Anders Hetty Green. Der Wert der Anleihen fällt und fällt, Green kauft alle Anteile, die sie bekommen kann, lässt sich von der Panik nicht beirren.

Regierung und Anleihen stabilisieren sich. Innerhalb eines Jahres gewinnt Green laut dem Biografen Charles Slack 1,25 Millionen Dollar. Sie sucht sich ein neues Investitionsobjekt - und findet die Eisenbahngesellschaften, die fleißig Gleise durch das wiedervereinigte Amerika verlegen. Hetty Green investiert und vervierfacht ihr Vermögen innerhalb weniger Jahre.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Hetty Green zu ihrem Spitznamen kommt.

Ende des 19. Jahrhunderts, ihre beiden Kinder Ned und Sylvia sind erwachsen, von ihrem Mann lebt sie getrennt, widmet sich Hetty Green ganz dem Geldgeschäft in Manhattan. Sie sagt der New York Times lakonisch: "Ich kaufe, wenn Papiere billig sind und niemand sie will. Ich behalte sie, bis ihr Wert steigt und alle sie kaufen wollen. Das ist das Geheimnis meines finanziellen Erfolgs." Als Sicherheit hält sie immer eine zweistellige Millionensumme Bargeld - und jede Menge Immobilien. So wird sie zum Vorbild, wenn sie kauft, ziehen andere nach.

Skurril, sparsam - fast geizig

Doch ihrer Umgebung ist der Erfolg unheimlich, zumal Hetty Green eine Frau ist. Die Wall Street sei - ebenso wie ein Schlachtfeld - ein unpassender Ort für eine Frau, schreibt eine Zeitung damals. Auch die Tatsache, dass viele wichtige Menschen und auch die Stadtverwaltung ihr viel Geld schulden, trägt nicht zu ihrer Beliebtheit bei.

Hinzu kommt, dass Green mit dem Alter immer skurriler wird, ihre Sparsamkeit nimmt merkwürdige Züge an. Als ein Geschäftsmann in einem Restaurant in Manhattan sein Mittagessen zu sich nimmt, kommt eine ältere Frau in einem schäbigen schwarzen Kleid herein und sagt zum Kellner: "Ich bekomme das beste Steak, das Sie mir für 30 Cent geben können." Der Kellner antwortet verwundert, er habe kein 30-Cent-Steak. "Können Sie mir nicht irgendwas aufwärmen?", fragt die Frau. Nein, das könne er nicht. Schließlich isst sie für 30 Cent Toast ohne Butter und einen Eintopf. Sie gibt kein Trinkgeld und geht fluchend hinaus: Das Essen sei höchstens 25 Cent wert gewesen. Der Kellner klärt den Geschäftsmann auf: Das sei Hetty Green gewesen, die reichste Frau der Welt.

Nein, diese Zeit hat wenig Verständnis für die Knickrigkeit einer Hetty Green. John D. Rockefeller und J.P. Morgan richten sich riesige Stadtpaläste ein, lassen sich durch New York kutschieren und spenden große Summen für Universitäten und Bibliotheken. Hetty Green hingegen lebt in einer Mietwohnung im New Yorker Vorort Hoboken zwischen deutschen und irischen Einwanderern. Brooklyn ist ihr einfach zu teuer geworden.

Ein staubiges, heruntergekommenes Kleid

Sie besitzt meist nur ein schwarzes Kleid. Wenn es staubig ist, lässt sie zunächst nur den Saum reinigen. So heruntergekommen fährt sie früh morgens von Hoboken mit der öffentlichen Fähre nach Manhattan, läuft zur Chemical National Bank nahe der Wall Street und macht ihre Geschäfte. Dabei lacht sie nie, sondern guckt so böse, dass sie das Broadway Magazine zur "am wenigsten glücklichen Frau New Yorks" kürt. Als ein junges Mädchen sich ein Herz nimmt und sie anspricht: "Wie wird man denn so reich wie Sie?", blickt Hetty Green sie abschätzig von oben bis unten an und sagt: "Gib nicht so viel Geld für Kleidung aus." So bekommt sie mit der Zeit den Spitznamen "Hexe der Wall Street".

Die Gerüchte über ihr Leben werden immer obskurer: Sie soll eine ganze Nacht damit verbracht haben, nach einer Zwei-Cent-Briefmarke zu suchen. Ihren Haferbrei esse sie morgens kalt, weil sie zu geizig sei, die Milch zu erwärmen. Die wohl böseste Geschichte, die immer wieder erzählt wird: Als ihr Sohn sich als Kind beim Schlittenfahren das Bein verdrehte, sei sie zu geizig für einen Arztbesuch gewesen. Das Bein muss deshalb später amputiert werden. Ganz so war es aber wohl laut dem Buchautoren Charles Slack nicht: Hetty Green sei mit dem verletzten Ned durchaus zu einem Arzt gegangen: zu einem Mediziner in einem Armenspital, wo die Behandlung kostenlos, aber nicht unbedingt schlecht gewesen sei.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Hetty Green zu ihrem Grab gekommen ist.

Hetty Green ist es egal, was andere von ihr halten. Auch das trägt wohl zu ihrer Unbeliebtheit bei. Sie kämpft mit jedem, der sich ihr in den Weg stellt. Besonders verhasst ist ihr Henry A. Barling, der Mann, den ihr Vater in seinem Testament als Verwalter der fünf Millionen Dollar benannt hat. Er versagt, findet Hetty Green. In den 30 Jahren nach dem Tod des Vaters ist das Vermögen kaum gewachsen. Sie könnte das Geld besser investieren, da ist sie sich sicher. Also klagt sie. Und beleidigt und beschimpft ihn, wo sie nur kann.

Einsam, unbeliebt und streitbar

Sie klagt auch gegen zahlreiche andere Personen. Als sie gefragt wird, warum sie die Waffenerlaubnis erworben hat, sagt sie: "Vor allem, um mich gegen Anwälte zu verteidigen. Vor Wegelagerern habe ich keine Angst." Selbst nach ihrem Tod beschäftigt Green noch die Gerichte. New York und New Jersey streiten sich darum, wo sie zum Zeitpunkt ihres Todes wohnte. Hetty Green hat sich nie an einem Ort wirklich offiziell registrieren lassen, um Steuern zu umgehen. Nun sind beide Gemeinden auf die Erbschaftsteuer aus. Die Auseinandersetzung geht bis vor das höchste amerikanische Gericht, den Supreme Court. Es gewinnt der Bundesstaat Vermont, der sich eigentlich gar nicht um die Steuer bemüht hatte. Dort hatte sie einige Zeit mit ihrem Mann gelebt, und dort wurde sie auch begraben. Selbst nach ihrem Tod 1916 ist Hetty Green also gut für Skurrilitäten.

Sie stirbt vermutlich nach einem Schlaganfall - kein angemessener Tod für eine Legende. Und so entstehen schnell wieder Geschichten: Sie soll vor ihrem Tod eine empfohlene Operation abgelehnt haben, erzählt man sich. Die Begründung: 150 Dollar seien ihr einfach zu teuer gewesen.

© SZ vom 15.04.2008/sme - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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