Sein Geschäftspartner Gottfried Heller besucht ihn im Sommer 1999 in der Pariser Wohnung, da ist André Kostolany schon sehr fragil. An den Rollstuhl ge-kettet. Auf 45 Kilogramm abgemagert. Im Gesicht keine Spur der überschäumenden Energie von einst. Doch als Kostolany den langjährigen Kompagnon Heller sieht, scheint ihn ein Stromstoß zu durchzucken.
Der 93-jährige Patient reckt den knochigen Zeigefinger und beginnt auf die Umtriebe zu schimpfen, die er an den Weltbörsen ausmacht. Selbstgewiss wie immer wettert er gegen das Hochjubeln gewinnfreier Internet-Klitschen, das in Millionen Anlegern auf dem Globus falsche Hoffnungen auf Reichtum anschwellen lässt.
Die Prophezeiung
"Es wirrrd ein Blutbad geben!" Drohend rollt er das österreich-ungarische R durch die Zimmerfluchten. Er verhandelt sein Lebensthema, die Psychologie der Aktienmärkte. Den Herdentrieb der Massen, dem er sich stets zu entziehen sucht. Um Geld zu verdienen, während andere blind in eine Richtung trampeln - und Geld verlieren.
Den Titel Spekulant, für viele Deutsche ein Schimpfwort, trägt er wie ein Adelsprädikat. Er wächst ja, acht Dekaden zuvor, mit dem Spekulieren auf. Im Durcheinander der abdankenden Habsburgermetropole Wien des Jahres 1919 blüht der Schwarzhandel mit Devisen der neuen Nachkriegsordnung. Flüchtlingssohn André tauscht tschechische Kronen gegen polnische Mark, dann weiter gegen serbische Dinar. Zehn Prozent beträgt der Profit des Händlers, der erst 13 Jahre zählt.
Später bricht Kostolany sein Studium der Philosophie und Kunstgeschichte ab, um bei einem französischen Börsenmakler in die Lehre zu gehen. Das Paris der lockeren Zwanziger Jahre fasziniert ihn. Doch Kaviar, feine Hotels und livrierte Chauffeure kann er sich nicht leisten. Also schaltet er einen Strohmann ein, der auf Kostolanys Rechnung die Börsenwetten eingeht, die ihm wegen seines Maklerjobs verboten sind.
Geld geht vor Moral
Moralische Fragen bekümmern ihn kaum. Um Schweizer Banker als Kunden zufriedenzustellen, führt er sie durch die Bordelle. An der Börse schlägt er sich den Baissiers zu, die auf fallende Kurse warten und darauf, "am Schmerz der anderen zu verdienen", wie er es nennt. "Mein Wertesystem hatte sich völlig ge-wandelt, mich interessierte nur noch Geld", resümiert er später kritisch.
Als am Schwarzen Freitag 1929 weltweit die Aktienkurse abstürzen, berührt dies die Pariser Börse zunächst wenig. Der junge Kostolany erkennt, dass der Trend aus Amerika durchschlagen wird. Während die meisten Pariser Anleger an eine endlose Börsenparty glauben, setzt er auf einen Kurssturz.
Er misstraut den Massen, die auf den perfekten Moment für den Ausstieg hoffen und aus Gier investiert bleiben, statt ihre satten Gewinne der vergangenen Jahre mitzunehmen. "Wenn es mehr Dummköpfe als Aktien gibt, fallen die Kurse", formuliert er als allgemeingültige Regel. Im Herbst 1930 bricht die Oustric-Bank zusammen. Die Pariser Börse geht in die Knie. Anleger verlieren Haus und Hof. Der Baissier Kostolany aber ist auf einen Schlag reich.
Intuition statt Rechnerei
"Wenn er beim Spekulieren Erfolg hatte, dann wegen seiner Intuition für Trends und die Psychologie der Anleger", glaubt sein Kompagnon Heller, der mit ihm die "Kostolany Börsenseminare" veranstaltete. "Das Erstellen von Zahlenkolonnen überließ er anderen." Seiner Intuition traut Kostolany ziemlich viel zu. "Er hat Kopf und Kragen riskiert", erzählt Heller.
Kostolany arbeitet nicht mehr als Makler. Er tippt weiter auf Baisse und setzt per Termingeschäft alles auf fallende Kurse. Plötzlich stundet US-Präsident Herbert Hoover den Deutschen 1931 riesige Reparationszahlungen. Die Kurse schießen hoch. Kostolany verliert sein ganzes Vermögen und hat Schulden. Demütig bittet er bei einem Makler um einen Brotjob.
Sowas kommt vor, so sein Fazit. Niemand liegt immer richtig. "Entscheidend für den Erfolg ist, dass der Spekulant etwas häufiger richtig liegt als falsch." Kostolany vertraut Ende der Dreißiger Jahre seiner Einsicht, dass der Aufstieg Adolf Hitlers Europas Staaten und Finanzmärkte ins Verderben führen wird.
Gratwanderung
Er spekuliert auf fallende Kurse. Doch die Krise lässt auf sich warten. In wenigen Tagen werden seine Verkaufsoptionen auslaufen. Er wird endgültig bankrott sein. Da stürzen die Aktien ab, gerade noch rechtzeitig. Der Baissier sammelt Hunderttausende ein, nach heutigem Wert besitzt er drei bis fünf Millionen Euro.
Auf und ab, alles oder nichts: Was für einen Wohlstandsbürger von heute wie Schwindel erregendes Zocken wirkt, kam dem Flüchtlingskind im Europa der Weltkriege womöglich weniger ungewöhnlich vor. Alles oder nichts gehörte zur Existenz. Mit den bourgeoisen Eltern muss er 1919 vor den Kommunisten aus Budapest fliehen. Zwei Jahrzehnte später ist es wieder soweit. Ein Kollege klopft an die Tür. Er fragt nach Börsentipps, jetzt, da die Wehrmacht kurz vor Paris stehe.
Der Jude Kostolany bittet um Bedenkzeit, packt Bündel von Dollars ein - und verschwindet durch die Hintertür Richtung Amerika. Dass er, die Nazis auf den Fersen, dort nach mehreren Wochen überhaupt ankommt, verdankt er auch dem Ertrag seiner letzten Alles-oder-Nichts-Spekulation: Er kann sich knappes Benzin und weitere Fluchthelfer zu Wucherpreisen kaufen, die sich andere Emigranten nicht leisten können.
Vielleicht sind es solche existenziellen Erfahrungen, die ihn für die zweite große Rolle seines Lebens prädestinieren: den Börsenlehrer. Zurück aus den Vereinigten Staaten, lebt er im Paris der Sechziger Jahre von seinem Vermögen und langweilt sich. Er schreibt ein Buch über die Börse, das in Frankreich ganz gut ankommt, noch besser aber in Deutschland. Bekannt wird er durch eine Kolumne im Magazin Capital und die "Kostolany Börsenseminare", die etwa 15.000 Deutsche besucht haben. Offenbar haben die Deutschen auf einen wie ihn gewartet, der die Börse einfach erklärt und mit Anekdoten unterhält.
Die vier G
Manches gerät peinlich schlicht, wie die Banalität von den vier G (Geld, Gedanken, Geduld und Glück), die ein erfolgreicher Investor brauche. Anderes bleibt nützlich, wie die Empfehlung, sich nicht vom täglichen Hin und Her der Kurse verrückt machen zu lassen, sondern längerfristig zu denken: "Ich lasse mich nicht vom Dow Jones terrorisieren."
Solide Aktien kaufen und einige Jahre halten, statt auf den optimalen Zeitpunkt zum Ein- und Ausstieg zu schielen: Dieser Rat ist gerade in heutigen Zeiten wertvoll, da die Börsen so unruhig sind. "Aktien sind nur kurzfristig riskant, nicht langfristig" - den Vorsprung von Aktien gegenüber anderen Anlagen auf längere Sicht bei überschaubarem Risiko belegen unzählige Studien.
Der Investor Kostolany folgt in der Nachkriegszeit wie eh und je globalen Trends, doch er setzt viel weniger auf eine Karte als früher. Die Firma Lehman Brothers kündigt dem einstigen Zocker ein Depot - wegen Inaktivität. "Das Tragische an uns alten Spekulanten ist, dass wir all die Erfahrung besitzen, aber nicht mehr den Mut", vertraut er seinem Freund Heller an.
Statt zu zocken, sucht Kostolany das Rampenlicht. Eitel ist er, in Lebensläufen macht er sich gerne zwei Jahre jünger. Als er schon mehr als siebzig Jahre zählt, kommt er oft aschfahl in sein Büro in der Münchner Fußgängerzone.
Er ist mal wieder durch die Provinz getingelt, um vor Publikum aufzutreten. Seine Frau drängt ihn, ins Ferienhaus an der Cote d'Azur überzusiedeln. Mit den Auftritten wäre es vorbei. "Dann wäre ich bald tot", sagt er zu Heller. Lieber verkauft er die Villa.
Es drängt ihn, seine Meinung zum Gang an den Weltbörsen zu äußern. Selbst kurz vor seinem Tod. Bei Gottfried Hellers Besuch im Sommer 1999 rafft er sich nochmal in seinem Rollstuhl auf, um vor dem Herdentrieb der Anleger zu warnen, die die Notierungen gewinnloser Internet-Klitschen nach oben treiben. Er misstraut der Mär vom neuen Reichtum für alle. "Es wird wirrrd ein Blutbad geben!" Wer seiner Intuition folgte, vermied hohe Kurseinbrüche. Die anderen verloren viel Geld.