SZ-Serie:Der Niedrigzins, ein großer Verführer

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Überschuldete Menschen spüren fast nichts vom Niedrigzins. Er könnte höchstens zu noch mehr Problemen führen.

Von Vivien Timmler, München

Natürlich verfolgt Carlo Wahrmann die öffentliche Debatte über den Niedrigzins. Natürlich versteht er all die Anleger, die momentan über die miesen Zinsen schimpfen. Aber wirklich bewegen können ihn diese Probleme nicht. Wahrmann ist Schuldnerberater und hilft jenen, die gar kein Geld übrig haben, das sie anlegen könnten. Zu ihm kommen die Menschen, die alleine nicht mehr von ihrer Schuldenlast herunterkämen. Und die haben andere Sorgen als den Niedrigzins.

Wie sie ihre Anwaltskosten bezahlen sollen, beispielsweise. Oder wie sie endlich einen Job finden, um ihre alten Kredite abzubezahlen. 6,7 Millionen Menschen in Deutschland sind überschuldet, wie aus dem Schuldneratlas von Creditreform hervorgeht, 380 000 von ihnen leben allein in Berlin, wo Wahrmann seit fast 30 Jahren berät. "Wer jetzt noch umschulden kann profitiert natürlich von den Minizinsen", sagt er, "aber wer bei uns landet hat diese Chance in der Regel ja schon gar nicht mehr." Die Schulden der meisten, die Wahrmann betreut, seien in der Regel schon viel früher entstanden, zu Zeiten, in denen die Kreditverzinsung noch erheblich höher war.

Wer hingegen heute eine Forderung nicht zurückzahlen kann, profitiert extrem vom Minizins. Seit nun schon sieben Jahren senkt die Europäische Zentralbank (EZB) den Leitzins kontinuierlich ab. Der Basiszinssatz, der bei Verzugszahlungen auf den Sockelzinssatz aufgerechnet wird, hat sich in den vergangenen Jahren proportional dazu entwickelt - und so sackte auch er nach Ausbruch der Finanzkrise zuerst von 3,19 auf 1,62, Mitte des Jahres 2009 dann auf 0,12 Prozent ab. Mittlerweile ist er sogar negativ und liegt seit anderthalb Jahren bei Minus 0,83 Prozent. Durch den Sockelzinssatz von fünf Prozent, der auf den Basiszinssatz aufgerechnet wird, fällt das zwar nur relativ ins Gewicht - im Vergleich zu Hochzinsphasen ist der Unterschied jedoch beachtlich.

Die niedrigen Zinsen können aber nicht nur eine Hilfestellung sein. Manchmal sind sie überhaupt erst der Grund, weshalb Menschen in die Überschuldung geraten. Der Niedrigzins lädt zum Träumen ein: Selten war es so billig, einen Kredit aufzunehmen, selten waren die Null-Prozent-Finanzierungs-Versprechen so omnipräsent. Wer sich aktuell verschuldet, glaubt meistens, tragbare Risiken einzugehen. Doch das ist in den seltensten Fällen der Fall, sagt Wahrmann. "Die niedrigen Zinsen können dazu verführen, sich keine großen Gedanken darüber zu machen, ob man sich einen Kredit überhaupt leisten kann."

Carlo Wahrmann leitet die Schuldnerberatung der Berliner Caritas. (Foto: Walter Wetzler/OH)

Besonders junge Leute seien anfällig für Null-Prozent-Angebote. "Bei vielen Jugendlichen und jungen Erwachsenen fehlt einfach die Finanzkompetenz, die sie in der Schule hätten mitbekommen sollen", sagt Wahrmann. Häufig tauchen diese Jugendlichen dann Jahre später in den Schuldnerberatungsstellen auf.

Auch bei Immobilienfinanzierungen wirkt der Niedrigzins wie eine Verführung, glaubt Wahrmann. In der Tat war es noch nie so günstig, sich für eine Immobilie zu verschulden. Der Schuldnerberater warnt allerdings eindringlich davor. "Der Markt hat natürlich darauf reagiert und sich nachjustiert", sagt er, "dementsprechend sind die Preise erheblich gestiegen." In den deutschen Ballungszentren sind Eigentumswohnungen inzwischen um 30 bis 40 Prozent teurer geworden.

Unter seinen Kunden findet sich trotzdem kaum jemand mit dieser Schuldenhistorie. "In Berlin-Mitte, wo ich arbeite, wohnen halt nicht die klassischen Häuslebauer", sagt er. Und wenn so jemand zu einem Schuldnerberater komme, habe er sich bereits vorher in einer finanziell brenzligen Lage befunden. Die finanzierte Immobilie sei in den wenigsten Fällen Ausgangspunkt der Überschuldung.

Wahrmann will deshalb auch den Niedrigzins nicht als Grund dafür bezeichnen, dass Menschen sich verschulden, zumindest noch nicht. Er sieht ihn eher als eine Art Katalysator. "Bei den meisten überschuldeten Menschen sind ein Jobverlust, eine plötzliche Erkrankung oder ein Partnerverlust durch Tod oder Trennung der Grund für die finanziellen Probleme. So auch bei meinen Kunden", sagt er. Weil sich bei diesen Menschen ihre finanzielle Lage so plötzlich ändere, gerate ihr stabil geglaubtes Finanzgefüge oft binnen Wochen oder Monaten aus den Fugen - und damit haben niedrige Zinsen zuerst einmal gar nichts zu tun.

Egal ist den Menschen der Niedrigzins trotzdem nicht, sagt Wahrmann. Zwar haben sie kein Erspartes, das sie anlegen und auf das sie Zinsen bekommen könnten - alles, was sie anlegen könnten, ginge ihnen schließlich vom meist ohnehin schon geringen Lebensunterhalt ab. Sie hoffen jedoch schließlich, eines Tages wieder schuldenfrei leben zu können und dann ihr weniges Erspartes zumindest ein bisschen über den Zins vermehren zu können. Von dieser Hoffnung können sie sich aber wohl vorerst verabschieden.

© SZ vom 27.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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