Zu ihm kommen alleinerziehende Mütter, die trotz Hochschulabschlusses keinen Job finden. Selbständige Grafikdesigner mit einem monatlichen Gewinn von 200 Euro. Migranten, die die sittenwidrigen Verträge, die sie unterschreiben, nicht lesen können. Er verachtet Zeitarbeitsfirmen und staunt über die rassistischen Kommentare mancher Kollegen. Claus Meisner ist Arbeitsvermittler in einem Berliner Jobcenter.
Meisner, der eigentlich anders heißt, ist seit mehreren Jahren zuständig dafür, gemeinsam mit Menschen, die Arbeitslosengeld II empfangen, auf Jobsuche zu gehen oder sie in einer Fortbildung unterzubringen. Zu ihm kommen vor allem Arbeitslose über 25 Jahre, für die jüngeren gibt es eigene Vermittler. Auch für Jobsuchende über 55 Jahren gibt es in manchen Jobcentern spezielle Teams. Bei einem Treffen wird deutlich, wie sehr er mit vielem, was ihm in seinem Arbeitsalltag begegnen, hadert. Mehr und mehr Beispiele fallen ihm ein für das, was seiner Meinung nach falsch läuft. "Wir könnten hier noch bis zwei Uhr nachts sitzen", sagt er am Ende des Gesprächs. Subjektive Einblicke in das System Hartz IV von einem seiner Verwalter.
Akademiker: "Viele verkaufen sich unter Wert"
Mach' Abitur, geh' an die Uni - dann findest du auch einen guten Job. Ein Hochschulabschluss gilt als bester Schutz vor Hartz IV. Die Arbeitslosenquote unter Akademikern liegt bei weniger als drei Prozent. Claus Meisner trifft jedoch im Jobcenter immer wieder auf Akademiker. "Die meisten schämen sich und erklären erst einmal: Ich bin nicht so wie die anderen, die da draußen sitzen." Häufig trifft es Uni-Absolventen, die nach dem Abschluss nicht sofort einen Job finden und die nicht von ihren Eltern unterstützt werden können.
"Viele von ihnen verkaufen sich unter Wert", sagt er. Architekten, die für 1500 Euro brutto Vollzeit arbeiten. Grafikdesigner, die als Selbständige einen monatlichen Gewinn von 200 Euro ausweisen und deswegen aufstocken müssen. Absolventen, die in Werbeagenturen oder großen Verlagen ganze Kampagnen leiten - für ein Praktikumsgehalt von 500 Euro im Monat. Er berichtet von namhaften Unternehmen, die gut ausgebildete junge Leute von einem Praktikumsvertrag zum nächsten schieben.
"Einige meiner Kunden nehmen die Arbeitgeber auch noch in Schutz", sagt er. "Es sei im Moment eben eine schwierige Situation, und das Renommee eines großen Namens sei doch auch viel wert, heißt es dann." Dass diese großen Namen ordentlich Geld verdienen, wenn sie eine Kampagne von einem Praktikanten anstelle eines ordentlich bezahlten Festangestellten ausrichten lassen - das macht Meisner wütend. "Bei den Akademikern ist nicht das zu hohe Anspruchsdenken das Problem. Im Gegenteil: Ich muss oft das gar nicht mehr vorhandene Anspruchsdenken überhaupt erst wecken."
Meisner hat Hemmungen, Akademiker in solche Jobs zu vermitteln. Aber er sieht sich in einem Dilemma: "Ich werde von der Arbeitsagentur in eine Rolle gedrängt, in der ich gar nicht sein möchte." Denn seinem Arbeitgeber ist es erst einmal wichtig, die Arbeitslosenzahl zu senken, die Kunden in sozialversicherungspflichtigen Stellen unterzubringen. Da sei es egal, ob jemand 451 Euro oder 4510 Euro im Monat verdient - "Integration ist Integration".
Empörung erlebt Meisner sehr selten. Dafür Resignation, manchmal Tränen. Wie soll es einem Menschen auch gehen, der ganz genau weiß, dass er nicht mehr loskommt vom Jobcenter? Die kommenden Jahre auf keinen Fall, vielleicht aber auch nie? Für viele alleinerziehende Mütter kommt diese Erkenntnis schnell, erzählt Meisner. Wer ein Kind hat und keinen Partner, das zeigen alle Studien, hat ein besonders großes Risiko, arm zu werden.
Alleinerziehende Mütter ohne hohe Qualifikation suchten häufig Jobs im Handel oder in der Gastronomie, erzählt Meisner. "Da gibt es aber bei den Unternehmern keinerlei Verantwortungsgefühl." Große Handelsketten zum Beispiel: Sie bieten fast nur noch Teilzeitstellen oder gleich Minijobs an. "Doch selbst wenn die Frauen nur zehn bis 15 Stunden die Woche arbeiten, sollen sie während der gesamten Öffnungszeiten verfügbar sein. Die Alleinerziehende fällt da komplett raus." Da kann er sie in noch so viele Weiterbildungsmaßnahmen stecken. "Die Alleinerziehende bleibt so lange arbeitslos, bis sie ein Unternehmen findet, das Mutti-Schichten anbietet."
Mutti-Schichten. Meisner stutzt, kurz nachdem das Wort aus seinem Mund ist, es hört sich für Außenstehende arg flapsig an. "Das ist nicht abwertend gemeint, so heißt das im Jargon." Meisner legt im Gespräch viel Wert darauf, nicht zynisch zu wirken, denkt die meisten seiner Sätze zu Ende, bevor er sie ausspricht, so dass sie beinahe druckreif beim Gegenüber ankommen. Dass er auf der Seite seiner Kunden steht, ist nicht zu überhören. Über sie spricht er bewusst respektvoll. Seine Angriffe auf alle, die seiner Meinung nach nicht empathisch genug mit ihnen umgehen, sind hingegen scharf und deutlich.
Meisner spricht respektvoll von seinen Kunden
Meisner berichtet nun von einer Kundin, die er seit einigen Monaten betreut. Wirtschaftsingenieurin, sehr guter Abschluss, Praktika bei großen Automobilunternehmen, optimale Bewerbungsunterlagen, perfekte Englischkenntnisse. Aber eben: alleinerziehende Mutter. "Ein Kind ist immer ein Ausfallrisiko, selbst wenn sie als Wirtschaftsingenieurin gar keine Früh- oder Spätschichten übernehmen muss." Trotzdem zögern die Arbeitgeber, stellen dann doch lieber einen jungen Mann ein, womöglich sogar mit geringerer Qualifikation.
Und das, obwohl Wirtschaftsingenieure doch so gefragt sind? "Ich frage mich immer, woher diese Informationen kommen", sagt Meisner lapidar. Wirtschaftsingenieure seien gesucht, ja. Aber eben nur solche, die sonst kein "Vermittlungshemmnis" mitbringen, wie es im Deutsch der Arbeitsagentur heißt. Seiner Kundin, die jeden Tag die Kraft aufbringen muss, weitere Bewerbungen zu schreiben und die Hoffnung nicht aufzugeben, bringen die Klagen der Unternehmer über zu wenig Fachpersonal also nichts.
In vielen Fällen bleibt den Müttern nur, sich mit jahrelanger Arbeitslosigkeit abzufinden. "Da gehört dann eben der Besuch in der Suppenküche am letzten Wochenende des Monats zum Alltag", sagt Meisner. Wütend machen ihn Außenstehende, die hier von der "sozialen Hängematte" sprechen, den Arbeitslosen vorwerfen, sich in ihrer Situation einzurichten. Denn sich damit zu arrangieren, erfordere viel Kraft, sei eine große Leistung, findet der Jobvermittler.
Migranten werden häufig ausgebeutet
Polen? Arbeiten schwarz. "Zigeuner"? Vermehren sich wie Karnickel. Aussagen wie diese bekommt Claus Meisner erschreckend häufig von Kollegen zu hören. "Da ist von 'Negern' die Rede, Ressentiments und Vorurteile über die Kunden werden gepflegt." Nicht von allen Arbeitsvermittlern, natürlich. "Aber ich rede hier auch nicht von zwei oder drei Leuten. Und was wollen Sie von einem solchen Arbeitsvermittler erwarten?"
Zum Beispiel das: Eine Kundin, die kaum Deutsch versteht und außerdem Analphabetin ist, unterschreibt eine Eingliederungsvereinbarung, in der die Agentur für Arbeit sie dazu verpflichtet, sich zehnmal im Monat zu bewerben. "Sie unterschreibt dann in den paar Druckbuchstaben, die sie kann, einen Vertrag, den sie nicht versteht." Und kann ihn natürlich nicht erfüllen - denn wie soll sich jemand bewerben, wenn er nicht einmal ein Anschreiben verfassen kann? Schlimmstenfalls können dem Kunden dann die Bezüge gekürzt werden.
"Da soll einfach eine Quote erfüllt werden", sagt Meisner. Arbeitsvermittler werden von der Agentur dazu angehalten, möglichst viele Eingliederungsvereinbarungen abzuschließen. Das zähle für seinen Arbeitgeber mehr als die Frage, ob er als Vermittler Rücksicht auf die Bedürfnisse seiner Kunden nehme, ob der Kunde gar glücklich sei, sagt Meisner und klingt wütend dabei. Er schüttelt den Kopf, zündet sich eine Zigarette an.
Die Kollegen - fragwürdiges Menschenbild
Dabei seien gerade Analphabeten mit schlechten Deutschkenntnissen besonders auf die Hilfe ihrer Arbeitsvermittler angewiesen. "Je schlechter jemand die Sprache spricht, je schlechter er schreiben kann - desto größer ist auch die Gefahr, dass er ausgebeutet wird", sagt Meisner.
Nicht nur gegenüber Migranten haben viele seiner Kollegen Vorbehalte, so berichtet es Meisner. Die Gängelung, von der viele Empfänger von Arbeitslosengeld II berichten? Gibt es, sagt er. "Das ist oft subtil. Ich habe zum Beispiel eine Kollegin, die schaut ihren Kunden nie ins Gesicht, wenn sie mit ihnen spricht. Sie spricht mit dem Computer." Meisner spricht auch von Kollegen, die einen regelrechten Wettbewerb ausgerufen haben: Wer verhängt die meisten Sanktionen?
Viele Arbeitsvermittler, so erzählt es Meisner, könnten mit den Problemen und den anderen "Lebensentwürfen" ihrer Kunden nichts anfangen. "Sie glauben, dass sie die Vorzeige-Bürger sind, die das perfekte Leben haben. Und dass es ihre Aufgabe ist, ihre Kunden zu erziehen." Sie seien erst einmal grundsätzlich misstrauisch gegenüber dem, was ihr Gegenüber sagt und tut. Woher hat zum Beispiel der Hartz-IV-Empfänger diese teure Outdoor-Jacke? Einer Kundin wurde von einem seiner Vorgänger sogar die Reise in ihr Heimatland verwehrt, weil er nicht glauben wollte, dass tatsächlich die Mutter gestorben war.
In bestimmten Fällen kann auch er nicht anders, als Sanktionen zu verhängen, sagt Meisner: "Wenn jemand nicht zum Termin erscheint, ich eine Anhörung rausschicke, er wieder nicht antwortet - dann muss ich Sanktionen erlassen." Anhörung heißen die Briefe, die die Agentur an ihre Kunden schreibt, wenn die sich aus Sicht der Behörde etwas zuschulden kommen lassen. Meistens, so erzählt es Meisner, sind Depressionen der Grund, wenn einer nicht kommt. Viele seiner Kunden leiden unter Panikattacken, können ihr Bett nicht verlassen, die Briefe bleiben ungeöffnet im Briefkasten stecken. Mit der U-Bahn zum Arzt fahren, im Warteraum voller Menschen sitzen? Geht dann nicht mehr.
Geht es der Agentur nur um Kennzahlen?
Wenn er bemerkt, dass er einen depressiven Menschen vor sich hat, bricht Meisner schon einmal ein ungeschriebenes Arbeitsvermittler-Gesetz: Er gibt seine Durchwahl raus. "Für viele ist es dann leichter anzurufen und mit mir zu sprechen, bevor ich wieder so eine Anhörung in diesem drohenden Amtston rausschicke." Die Anhörungen sind Standardschreiben, aus den immer selben Textbausteinen zusammengebaut. "Für jemanden, der ohnehin schon psychische Schwierigkeiten hat, ist so ein Schreiben schrecklich."
Natürlich werde er auch misstrauisch, wenn jemand innerhalb eines Jahres zehn nahe Verwandte beerdigt und trotzdem bester Laune sei, schränkt Meisner ein, "nur weil jemand empathisch ist, ist er ja nicht blöd". Dennoch: Im Laufe des Gesprächs entsteht immer wieder der Eindruck, er habe innerlich die Seiten gewechselt. Von seinen Kunden spricht er freundlich und mitfühlend. Mit seiner Behörde hadert er.
Warum er den Job nicht aufgibt, wenn ihn so viele Dinge stören? Er habe in seiner Position genügend Freiheiten, Dinge anders zu machen als erwartet, sagt er. "Die Gespräche mit den Kunden finden ja unter vier Augen statt." Was natürlich auch mal zum Nachteil der Kunden ausgehen kann, wenn sie auf einen weniger wohlwollenden Vermittler treffen. "Die Frage, ob sie einen guten oder einen schlechten Vermittler bekommen, entscheidet sich allein am Anfangsbuchstaben ihres Nachnamens", sagt Meisner. Er hält sich für einen der guten.
Natürlich gibt es auch unter seinen Kunden jene Menschen, die unfein "Sozialschmarotzer" genannt werden. "Sehr clevere Leute, die sich immer wieder entziehen." Häufiger als auf die viel beschriebene "soziale Hängematte" trifft Meisner aber auf einen anderen Fall. Kunden, die einem Minijob nachgehen, weiter Leistungen beziehen und in ihrer übrigen Zeit schwarz arbeiten. "In der Gastronomie ist das gang und gäbe. Die Unternehmer stellen die Leute auf 450-Euro-Basis ein, lassen sie aber mehr arbeiten."
Meisner setzt in solchen Fällen manchmal Qualifizierungsmaßnahmen an, damit seine Kunden außerhalb der legalen Arbeitszeit wenigstens am Rechner sitzen und Stellenanzeigen lesen, anstatt schwarz zu arbeiten. "Das ist manchen Arbeitgebern dann zu blöd - und plötzlich klappt es mit dem Vollzeit-Vertrag." Aber es gibt auch negative Beispiele, solche, wo der Chef sagt: Dann geh' doch.
Der Arbeitgeberservice - fragwürdiger Teil des Systems
"Wir statten Arbeitgeber mit billigem Menschenmaterial aus", kommentiert Meisner das, was seine Behörde tut. Als Beispiel nennt er das Weihnachtsgeschäft. "Da ruft ein großes Versandunternehmen aus dem Norden Berlins an: Hey, wir brauchen Leute. Dann trommelt die Agentur in Infoveranstaltungen Leute zusammen, schiebt sie in diese Jobs - obwohl völlig klar ist, dass sie nach dem Weihnachtsgeschäft wieder arbeitslos sein werden."
In der Reinigungsbranche, im Bereich Sicherheit und vor allem in der Zeitarbeit seien die Verhältnisse ebenso prekär. "Der Aufstieg der Zeitarbeit wäre ohne die Agenda 2010 nie möglich gewesen", sagt er. "Wir haben durch sie die Macht, die Menschen unter der Androhung von Sanktionen und einschneidender finanzieller Einbußen dazu zu treiben."
Keiner seiner Kunden käme etwa von sich aus auf die Idee, bei einer Zeitarbeitsfirma anzuheuern. "Allen Imagekampagnen zum Trotz hat die Branche den Ruf, den sie hat, zu Recht." Nach Ansicht von Meisner wollen Zeitarbeitsfirmen nur eins: Geld machen mit der Not von Menschen, die anderswo keine Arbeit finden. Die Sprungbrettfunktion, die der Zeitarbeit nachgesagt wird? Ein Mythos, ist sich Meisner sicher. Statistiken bestätigen seine Beobachtungen: Knapp die Hälfte der Zeitarbeiter kommt nicht über eine Beschäftigungsdauer von drei Monaten hinaus.
Der Arbeitgeber als König unter den Kunden
Unternehmen haben einen eigenen Ansprechpartner in der Arbeitsagentur - den sogenannten Arbeitgeberservice. Die Mitarbeiter des Arbeitgeberservices speisen unter anderem Stellenanzeigen in das interne System der Arbeitsagentur ein. Was da manchmal in internen Vermerken steht, die der Arbeitssuchende selbst nicht sieht, macht Meisner fassungslos. Da will ein Arbeitgeber "nur Deutsche" oder "nur attraktive, junge Frauen". Alles Einschränkungen, deretwegen Unternehmen in offiziellen Jobanzeigen eine Abmahnung kassieren würden, wegen des AGG, des Allgemeinen Gleichstellungsgesetzes.
Natürlich seien gewisse Anforderungen erlaubt, sagt er. Zum Beispiel gebe es Bürojobs, für die perfekte Deutschkenntnisse vonnöten seien - "aber dafür muss ich ja kein deutscher Staatsbürger sein". Doch was soll er tun? Aus Prinzip gegen die internen Vermerke verstoßen? "Das will ich nicht, weil ich dann meinem Kunden einen Auftrag für eine Bewerbung gebe, von dem ich weiß, dass sie sowieso keinen Erfolg haben wird."
Im schlimmsten Fall beschwert sich dann der Arbeitgeber beim Arbeitgeberservice und der Arbeitsvermittler bekommt einen Rüffel. Die Kontakte zu den Unternehmen sind wichtig für die Agentur, nur so gelingt es ihnen, Menschen zu "integrieren" wie es im Jargon heißt. Sie also - wenn auch nur kurz, häufig unter prekären Bedingungen - aus der Arbeitslosenstatistik zu halten. So stellt es zumindest Meisner dar. "Der Arbeitgeber ist der König unter den Kunden. Die anderen heißen nur so."