Stuttgart (dpa/lsw) - 37 Meter hoch ist das Konstrukt aus Stahl und Holz, das Visionären beim Bauen der Zukunft helfen soll: An dem zwölfgeschossigen Hochhaus auf dem Gelände der Stuttgarter Universität testen Forscher künftig, wie Gebäude nachhaltig gebaut werden und idealerweise aussehen könnten. Dabei geht es zum einen um ganz praktische Dinge, wie Initiator und Architekt Prof. Werner Sobek am Dienstag bei der Eröffnung deutlich machte: Die beste Farbe für ein Dach sei kein Terrakotta-Ton - sondern weiß im Sommer, um die Sonne abzuweisen. Und schwarz im Winter, um Wärme zu speichern.
Zum anderen geht es darum, Ressourcen zu schonen. Der Beitrag des Bauwesens bei weltweiten Emissionen betrage rund 40 Prozent, sagte der Sprecher des Sonderforschungsbereichs, Oliver Sawodny. Stahl- und Betonproduktion, aber auch Transport spielen hier große Rollen. Um die Klimaziele zu erreichen, ist laut Sobek ein drastischer Wechsel bei Bauweisen nötig. Sonst müsse man deutlich weniger bauen.
Der neue Turm ist so konstruiert, dass er Schwingungen etwa bei starkem Wind ausgleichen kann. Dehnungsmessstreifen registrieren mithilfe von Sensoren Veränderungen. 24 Hydraulikzylinder in Stützen und Streben können dann den Stahl um wenige Millimeter verschieben. Menschen im Gebäude sollen davon im besten Fall nichts merken. So ließen sich bis zu 50 Prozent Material einsparen, erklärte Sawodny.
Dass das reicht, machte Sobek deutlich: Die meisten Bauten seien so konstruiert, dass die Elemente so gut wie nie ausgelastet seien. „Für den Moment, wo der schlimmste aller Stürme in 1000 Jahren mit dem schlimmsten Schneefall in 1000 Jahren zusammentrifft.“ Für die übrige Zeit seien die Konstrukte überdimensioniert. Anpassungsfähigkeit (Adaptivität) lautet das Schlagwort. Das Gebäude ist das erste adaptive Hochhaus der Welt. Weltweite Spitzenforschung, so Sobek.
Auf dem Campus Vaihingen geht es um Grundlagenforschung. Wann erste Gebäude mit der Technik zur Nutzung gebaut werden, sei seriös nicht abzuschätzen, sagte Markus Müller, Präsident der Architektenkammer Baden-Württemberg, der Deutschen Presse-Agentur. „Wir reden bei dieser Technologie auch nicht über das Einfamilienhaus.“ Relevant sei die Forschung mit Blick auf die wachsende Weltbevölkerung etwa in asiatischen Metropolen, die unter anderem erdbebengefährdet sind.
Unter dem Aspekt ressourcenschonendes Bauen würden verschiedene Ansätze verfolgt, erklärte Müller. Man unterscheide sogenannte Lowtec von Hightec. „Das, was die Bauingenieure in Vaihingen machen, ist ganz klar Kategorie Hightec. Das sind hoch ausdifferenzierte Systeme, nicht wie bei den Römern.“ Ein Gebäude müsse nicht immer gegen einen Orkan geschützt, sondern nur dann, wenn es wirklich stürme. Dafür müssten aber oft nur wenige Elemente verstärkt werden.
Erst mit der Entwicklungen von Rechnern und Sensoren seien solche Konstrukte möglich geworden, so Müller. „Die Frage ist aber immer auch, wie viel Technik ich in ein Gebäude stecken will?“ Dann könnten Hotels etwa anhand von gesammelten Daten und Wahrscheinlichkeiten die Zimmertemperatur zum Aufstehen automatisch anpassen.
Im Lowtec-Bereich erlebe gerade Lehm ein Comeback, sagte der Kammerpräsident. Der Baustoff sei ideal mit Blick etwa auf Raumklima und Schimmelbildung. Neue Techniken machten ihn besser einsatzfähig.
Mit der Zeit werde sich zeigen, welche Ansätze sich für welche Zwecke besser eignen, sagte Müller. Er verglich das mit der parallelen Entwicklung von Wasserstoff- und Elektroantrieben bei Autos. Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne) lobte, dass sich die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen einem Megathema gestellt hätten. „Wenn es ums Bauen geht, geht es um viel mehr als die Frage, was man für ein Dach über dem Kopf hat.“ Die Arbeiten in Stuttgart gingen die breite Öffentlichkeit an und seien für viele relevant.
An der Uni Stuttgart arbeitet nach Müllers Einschätzung europaweit eines der größten Forschungscluster auf dem Gebiet. Das am Dienstag präsentierte Bauwerk ist Ergebnis des Sonderforschungsbereichs 1244 mit dem Titel „Adaptive Hüllen und Strukturen für die gebaute Umwelt von morgen“. 14 Institute der Stuttgarter Uni gehen nach Angaben der Hochschule seit 2017 der Frage nach, „wie angesichts einer wachsenden Weltbevölkerung und schrumpfender Ressourcen künftig mehr Wohnraum mit weniger Material geschaffen werden kann“. Auch Nutzerkomfort und soziokulturelle Aspekte werden dabei berücksichtigt.
Mit rund 40 Millionen Euro und weiteren Fördermitteln verfügen die Stuttgarter laut Sobek „über einen Geldtopf, der für die Bauforschung in Europa einmalig ist“. In den kommenden Jahren sollen in und an der Konstruktion unterschiedliche Materialien getestet werden wie die Dächer mit Farbwechsel und Fassaden, die Regenwasser auffangen. Sobek sagte: „Am Ende ist es ein technologisches Wunderwerk.“
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