545 Euro. So viel soll eine vierköpfige europäische Familie im Jahr mehr in der Tasche haben, wenn sich Europa und die USA auf das Freihandelsabkommen TTIP einigen. 545 Euro mehr Jahreseinkommen, das ist eine der Zahlen, die in der öffentlichen Diskussion immer wieder auftauchen und mit denen die EU-Kommission wirbt. Sie beruft sich dabei auf eine Studie des Londoner Forschungsinstituts Centre for Economic Policy Research (CEPR), die sie in Auftrag gegeben hat (PDF).
Heinz-Josef Bontrup, Ökonom an der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen, glaubt nicht an die 545 Euro. Er glaubt auch nicht, dass Prognosen wie die des CEPR überhaupt seriöse Ergebnisse liefern, sondern höchstens als Munition für Wirtschaftsinteressen dienen. Bontrup gehört zu jenen deutschen Wissenschaftlern, die Kanzlerin Angela Merkel aufgefordert haben, TTIP zu stoppen.
Wenn Politiker abschätzen müssen, welche Auswirkungen ein Abkommen wie TTIP haben könnte, berufen sie sich oft auf sogenannte Ex-ante-Studien. Diese treffen Vorhersagen zu einer Situation, die noch gar nicht eingetreten ist, sind also immer spekulativ. Um möglichst präzise Prognosen zu entwickeln, nutzen Forscher komplexe Modelle, in denen unterschiedliche Größen voneinander abhängen. Verändert man eine dieser Variablen, hat das Folgen für eine andere. Grob vereinfacht kann man sich das im Fall von TTIP so vorstellen: Für Unternehmen verursachen Zölle und unterschiedliche Standards Kosten, also zum Beispiel, dass ein VW Golf in den USA einen anderen Airbag braucht als in Europa. Werden nun alle Barrieren abgeschafft, sinken diese Handelskosten, Konzerne können die Preise ihrer Produkte senken und mehr Waren verkaufen - zumindest, wenn die Nachfrage stimmt. Die Wirtschaft wächst. Ein bisschen ist das wie Malen nach Zahlen: Je nachdem, wie man die Ziffern verbindet, entsteht ein Bild.
Was kostet es, wenn Konzerne Preise senken?
Das CEPR errechnet die 545 Euro pro EU-Familienhaushalt ebenfalls, indem es bestimmte Punkte voraussetzt: Das Institut prognostiziert, dass TTIP Europa Aufschwung bringt - konkret soll das EU-weite Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 119 Milliarden Euro im Jahr wachsen. Außerdem würden Konzerne die Preise ihrer Produkte senken, "weil Einfuhrzölle auf Waren aus den USA ebenso abgeschafft werden wie unnötige Vorschriften, die den Handel zwischen der EU und den USA verteuern", argumentiert die EU-Kommission. Bontrup hält das für Unsinn: "Warum sollten Konzerne ihre Einsparungen an den Verbraucher weitergeben?" Und selbst wenn: "Man muss immer fragen: Wer finanziert das? Waren werden günstiger, wenn bei gleichen Stückgewinnen die Stückkosten sinken. Das bedeutet allerdings, dass Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren, die in die Produktion eingebunden sind." Konsumenten würden demnach von niedrigeren Preisen profitieren, viele Menschen in den Fabriken aber nicht.
In der aktuellen Diskussion über TTIP tauchen vor allem drei groß angelegte Studien auf. Die Analyse des CEPR, mit der die EU-Kommission argumentiert; die Studie des Münchner Ifo-Instituts im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums und eine weitere Arbeit der Ifo-Forscher (PDF), die sie für die Bertelsmann-Stiftung angefertigt haben. Alle Untersuchungen gehen von zwei unterschiedlichen Szenarien aus: Was passiert, wenn sich mit TTIP wenig verändert, also nur Zölle abgeschafft werden? Und was passiert, wenn das Abkommen den Handel grundlegend liberalisiert, zusätzlich also zum Beispiel auch unterschiedliche Normen und Vorschriften, etwa bei Auto-Airbags oder in der Lebensmittelindustrie, angeglichen werden? Da die Verhandlungen geheim sind, sei es allerdings unklar, ob es am Ende überhaupt zu einem der Szenarien komme, wie Matthias Fifka, Wirtschaftsprofessor an der Universität Erlangen-Nürnberg schreibt.
Außerdem bewerten Forscher sehr unterschiedlich, was in ein Szenario hineingehört, welche Variable wie bestimmt wird und wie sie mit anderen zusammenhängt. Zum Beispiel fragt man sich, was Handelsbarrieren eigentlich sind. Gehören dazu nur unterschiedliche Standards? Oder muss auch die Infrastruktur eines Landes - etwa der kostengünstige Weg vom Hafen zur Fabrik - einberechnet werden?