Strukturwandel:Neue Quelle

Nürnberg hinkte lange wirtschaftlich hinterher. Firmen wie Grundig, MAN, AEG oder Quelle verschwanden oder schrumpften zur Unkenntlichkeit. Jetzt hat die Stadt den Wandel geschafft.

Von Uwe Ritzer, Nürnberg

Christa Standecker ist ein großer Tatort-Fan, aber als sie vom Thema der nächsten Folge aus Franken hörte, reagierte sie genervt. Die TV-Kommissare werden im rechten Umfeld ermitteln, es geht um fremdenfeindliche Übergriffe auf eine Flüchtlingsunterkunft. "Das ist sicher ein wichtiges Thema", sagt Standecker. Zumal in Nürnberg, einst Stadt von Hitlers Reichsparteitagen. Trotzdem wäre es Standecker lieber, es ginge um Mord "in der High-Tech- oder der Kreativszene".

Der Wunsch der promovierten Volkswirtin ist beruflich motiviert. Als Geschäftsführerin der Europäischen Metropolregion Nürnberg (EMN) kämpft Standecker darum, das neue Bild der Region publik zu machen. Das alte ist hinlänglich bekannt. Es erzählt von wirtschaftlichem Niedergang, von Giganten wie Grundig, MAN, Triumph Adler, Hercules, AEG oder Quelle, die untergingen oder teilweise bis zur Unkenntlichkeit schrumpften. Zehntausende Arbeitsplätze gingen dabei verloren. Doch Krise war gestern. Das neue Bild kündet von Zukunftsbranchen, Kreativität und einem wirtschaftlichen Aufschwung, den der Region kaum jemand zugetraut hat. "Nürnberg ist lange hinterhergelaufen", sagt Olaf Arndt vom Wirtschaftsforschungs- und Beratungsunternehmen Prognos AG. "Jetzt aber ist die Aufholjagd abgeschlossen und die Region biegt auf die Überholspur ein."

Wo früher Metallarbeiter um ihren Job kämpften, steht heute ein Café

Das Alte und das Neue - nirgendwo stehen sie sich so unmittelbar gegenüber wie in der Fürther Straße in Nürnberg. In eleganteren Großstädten wäre die vierspurige Trasse längst zum Boulevard geschminkt worden. Im wenig glamourösen Franken ist sie die Hauptverkehrsader zwischen Nürnberg und Fürth. Kurz vor der Stadtgrenze gammelt auf der einen Straßenseite ein sandfarbener Koloss vor sich hin: Das ehemalige Versandzentrum des 2009 untergegangenen Versandhauses Quelle, eine der größten leer stehenden Immobilien Deutschlands.

Gegenüber aber herrscht hinter strahlend weiß angemalten Fassaden quirliges Treiben. "Auf AEG" heißt das weitläufige Areal mit Hallen, Büros und gepflegten Innenhöfen. Bis vor zehn Jahren wurden hier Waschmaschinen und Geschirrspüler montiert, im ältesten Hausgerätewerk von AEG. Anfang 2006 kämpften hier 1750 Beschäftigte monatelang vergeblich um ihre Jobs. Wochenlang hielten sie die Fabrik besetzt. Wo damals robuste Metallarbeiter an Feuertonnen das Werkstor verrammelten, ist heute ein Café, eingerichtet im früheren Pförtnerhäuschen.

In den Hallen dahinter, wo früher Hausgeräte vom Band liefen, haben sich Softwareentwickler und Künstler, Handwerker und Start-ups eingerichtet. Auch die AEG und ihr schwedischer Mutterkonzern Electrolux haben hier noch eine Dependance. Siemens produziert auf dem Gelände Hochleistungs-Trafos, Forscher diverser Institute und Lehrstühle tüfteln an Energiesystemen, Fertigungstechnik, Antrieben und der Bauphysik der Zukunft. Entscheidet der Freistaat Bayern Ende September wie erwartet, wird auf dem letzten freien Viertel des großen Geländes ein Teil der Technischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg einziehen. "Statt wie früher eine Monokultur haben wir heute eine Kleinteiligkeit von Wirtschaft, Kultur, Forschung und Bildung", sagt Bertram Schultze, der Quartiermanager.

Die Altlasten sind trotzdem noch da, nicht nur in Gestalt des alten Quelle-Versandzentrums gegenüber, mit dem bislang niemand etwas Gescheites anzufangen weiß. Viele derer, die ihre Jobs dort, bei AEG, Grundig oder in einer anderen Fabrik verloren haben, schafften keinen Neuanfang. Wer sein Berufsleben lang als Angelernter Waschmaschinen zusammengeschraubt oder Päckchen versandfertig gemacht hat, womöglich nur schlechte Sprachkenntnisse und eine angeschlagene Gesundheit hat, dem helfen neue Arbeitsplätze in Zukunftsbranchen oder Forschung nichts.

"Dass vor allem im Helferbereich viele Stellen verloren gingen, ist bis heute spürbar", sagt Mathias Ringler von der Nürnberger Arbeitsagentur. Die Gesamtbilanz aber stimme. Im Juli lag die Zahl der registrierten Arbeitslosen in Nürnberg so niedrig wie noch nie seit der Wiedervereinigung. Mit einer Erwerbslosenquote von aktuell 6,5 Prozent liegt die Stadt zwar deutlich über dem Landes (3,5 Prozent) und leicht über dem Bundeswert (6,1 Prozent). Aber eben auch deutlich unter den Quoten vergleichbarer Großstädte. Und ganz abgesehen davon: Im Umland herrscht vielerorts Vollbeschäftigung. "Nürnberg hat einen riesigen Strukturwandel gemeistert", sagt Arbeitsmarktexperte Ringler.

"Wir haben in der Krise die richtigen Felder besetzt."

Binnen zehn Jahren hat sich die Arbeitslosigkeit in der gesamten Metropolregion Nürnberg mehr als halbiert. Gleichzeitig kamen 185 000 neue sozialversicherungspflichtige Jobs hinzu. Die Wirtschaftsleistung wuchs um ein Viertel und damit stärker als in Bund oder Land. Die Zahl der Hochschulabsolventen hat sich verdoppelt; noch nie war das Netz an Forschungs- und Bildungseinrichtungen dichter. In der einstmals größten Industrieregion Süddeutschlands ist die IT- und Kommunikationstechnologie heute der wichtigste Wirtschaftszweig, mit einem doppelt so hohen Anteil an Beschäftigten wie im Bundesdurchschnitt.

"Natürlich sind wir von einem niedrigen Niveau aus gestartet", sagt Metropolregion-Geschäftsführerin Christa Standecker. "Aber wir haben in der Krise auch die richtigen Felder besetzt." IT und Kommunikation ist nur eines davon. Andere sind Verkehrs- und Antriebstechnik, Neue Materialien, Automation, Logistik, die Produktion von morgen. "Als es Nürnberg schlecht ging, haben wir nicht gejammert und um staatliche Almosen gebettelt, sondern konkrete Themenfelder vorgeschlagen, auf denen wir uns entwickeln wollten", schildert Klaus Wübbenhorst, Sprecher der Wirtschaft in der Metropolregion. "Wir haben aktiv gestaltet." Der Freistaat und die Kommunen haben investiert, vor allem in Forschung und Infrastruktur. "Es wird sehr fokussiert auf Wachstumsbranchen gesetzt", sagt Prognos-Experte Arndt, der die Entwicklung Nürnbergs in den vergangenen zehn Jahren untersucht hat. Größte Stärke der Region sei inzwischen, "dass die komplette Wissenskette von der Forschung bis hin zur Serienproduktion greift."

So hat es Erlangen zu Deutschlands führendem Medizintechnik-Standort gebracht, in Amberg hat Siemens seine erste digitale Fabrik gebaut. "Neben erfolgreichen Konzernen gibt es viele erfolgreiche Mittelständler, die in ihren Bereichen Weltmarktführer sind, ohne dass sie groß darüber reden", sagt Peter Ottmann, Chef der ebenfalls prosperierenden Nürnberger Messe. Doch nirgendwo in Franken verdichtet sich das neue Bild der Region besser als in Herzogenaurach. Gleich drei Global Player beherbergt das 25 000 Einwohnerstädtchen: Den Autozulieferer Schaeffler und die beiden Sportartikelhersteller Adidas und Puma. Zusammengerechnet bieten sie vor Ort 15 000 Arbeitsplätze.

Allein die Adidas-Konzernzentrale ist inzwischen zu einem eigenen Stadtteil angewachsen. Weit mehr als eine halbe Milliarde Euro hat das Unternehmen in den vergangenen Jahren dort in moderne Architektur investiert - eine schöne Kulisse für einen Tatort.

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