Strukturwandel:Industrie ist out

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General Electric fliegt aus dem US-Aktienindex Dow Jones - nach mehr als hundert Jahren. Allerdings diskutieren Fachleute die Relevanz des Börsenbarometers, das weder Amazon noch Google enthält.

Von Kathrin Werner, New York

Es ist eine Entscheidung mit Symbolkraft: Nach mehr als einem Jahrhundert fliegt General Electric aus dem US-Leitindex Dow Jones Industrial Average. Kommende Woche wird die Drogerie- und Apothekenkette Walgreens Boots Alliance das Industriekonglomerat ersetzen, teilte die Betreiberfirma S&P Dow Jones Indices mit. "Der Wechsel wird den Index zu einem besseren Maß für die Wirtschaft und den Aktienmarkt machen."

Seit 1907 gehörte GE dem Dow Jones ununterbrochen an. Der Industrieindex war immer auch ein Spiegel seiner Zeit. Ein Vorläufer aus dem Jahr 1884 listete neun Eisenbahn- und zwei Industrieunternehmen - die mächtigsten Firmen des jungen Landes. Später wurde der Index neu zusammengesetzt, neben General Electric waren elf weitere Industrieaktien vertreten, von Gummi- über Tabak- bis zu Baumwollkonzernen, die heute entweder nicht mehr existieren, Teil anderer Konzerne sind oder umgetauft und umgebaut wurden und den Index längst verlassen mussten. Heute sind die Branchen im Dow Jones vielfältiger, Apple, Cisco, Goldman Sachs und McDonald's sind vertreten. Der Index spiegelt heute die abnehmende Bedeutung der produzierenden Industrie in den USA wider.

Viele Marktbeobachter diskutieren allerdings über die Relevanz des alten Leitindex in der heutigen von Tech-Konzernen getriebenen US-Wirtschaft. Anders als etwa der deutsche Dax oder der S&P 500 sind die 30 Mitglieder des Dow Jones Industrial Average nicht einfach die nach Börsenwert größten Unternehmen der zwei Börsen New York Stock Exchange und Nasdaq. Ein Komitee wählt stattdessen die Papiere für den Dow aus. Sie sollen verschiedene Branchen repräsentieren und "eine exzellente Reputation haben, nachhaltiges Wachstum zeigen und für eine große Zahl von Investoren von Interesse sein", heißt es in den Richtlinien. Trotzdem fehlen heute die größten und mächtigsten Firmen wie Google oder Amazon. So einfach lässt sich das allerdings nicht ändern. Der Index ist nach Aktienpreis gewichtet. Würde S&P Dow Jones Indices etwa Google und Amazon aufnehmen, würden die Aktien fast die Hälfte des Indizes ausmachen und ihn so sehr verzerren, dass er keine Aussagekraft mehr hätte. Anders als früher üblich haben viele Tech-Firmen ihre Aktien nicht aufgespalten, eine einzige Amazon-Aktie kostet heute mehr als 1700 Dollar. So verlieren einerseits die Unternehmen Zugang zu dem prestigeträchtigen Dow Jones und andererseits der Dow Jones nach und nach an Prestige.

So warb General Electric in den 1950er Jahren für seine Produkte. (Foto: picture alliance)

Für GE jedoch ist der Rausschmiss aus dem Index eindeutig ein Prestigeverlust. "Schon wieder herzzerreißende Nachrichten für Leute wie uns, die dort gut 30 Jahre verbracht haben", sagt Bob Nardelli dem Nachrichtensender CNBC. "Eine Überraschung ist es allerdings nicht." Nardelli, Ex-Chef von Chrysler und der Baumarktkette Home Depot, hat eine lange Karriere bei GE verbracht und es fast zum Vorstandsvorsitzenden gebracht. Heute kritisiert er die Führung unter John Flannery, der 2017 den Chefposten übernahm. Nicht nur für Nardelli, auch für die meisten Marktbeobachter kam das Ende von GE im Dow Jones nicht als Überraschung. Binnen eines Jahres hat das Unternehmen 55 Prozent seines Börsenwerts verloren. Die Index-Verwalter wünschen sich eine Aktie, die Auftrieb gibt, so wie GE in den guten, alten Zeiten. Von 1993 an war der Konzern mehrere Jahre lang, mit kurzen Unterbrechungen, das wertvollste börsennotierte Unternehmen der USA. Außerdem spielt eine Aktie, die so wenig kostet wie GE mit derzeit 13 Dollar, wegen der Preisgewichtung im Index eine so geringe Rolle, dass sie die Aussagekraft in die andere Richtung verzerrt als Amazon es täte.

Die Dow-Jones-Entscheidung sagt nichts Neues aus über die wirtschaftliche Lage des Siemens-Rivalen, trotzdem brach der Aktienkurs ein. Das Unternehmen stecke immer noch in einer "Post-Jack-Abwärtsspirale", analysierte Nardelli. "Ich glaube nicht, dass das Schlimmste schon vorbei ist." Jack Welch war der legendäre Firmenchef, der GE zu dem Konglomerat machte, das es heute ist. Unter Welch galt die Firma bis in die 1990er-Jahre als das am besten geführte Unternehmen der USA - und erntete oft auch Neid aus München. Welch pflegte das Shareholder-Value-Denken, als der Begriff in Deutschland kaum bekannt war. Er stand im Ruf, nach Belieben Mitarbeiter zu feuern sowie Firmen zu kaufen oder verkaufen, um Gewinne zu steigern und den Aktionären hohe Dividenden auszuschütten. Vor allem kaufte er zu, GE wurde zum Mischkonzern mit Bank- und Mediensparte und entfernte sich immer weiter von den Industriewurzeln. Seine Nachfolger arbeiten daran, diesen Kurs zu korrigieren.

Seit seinem Antritt hatte Flannery fast ausschließlich Schreckensnachrichten zu vermelden. Im Herbst warnte er vor Problemen in der Stromsparte. Er kürzte die Dividende, das geschah erst zum zweiten Mal seit der Großen Depression der 1930er-Jahre. Im Januar schockierte der Konzern die Anleger mit hohen Kosten für alte Schulden von GE Capital. Seit Monaten schon gibt es Diskussionen, ob es nicht besser wäre, den Konzern komplett aufzuspalten. Flannery, Jahrgang 1962, konzentriert sich bislang aber auf den Verkauf einzelner Teile. Vor Kurzem schloss die in Boston ansässige Firma einen Deal, um das sehr traditionsreiche Eisenbahngeschäft zu verkaufen. Außerdem steht die Beleuchtungssparte zum Verkauf. Flannery plant, bis zum Ende des kommenden Jahres Vermögenswerte für 20 Milliarden Dollar abzustoßen. Er streicht Jobs und reduziert Kosten.

Trotz all der schlechten Nachrichten: Ein Todesstoß ist GEs Ende im Dow Jones nicht. Die Aktie der Bank of America etwa, die 2013 ausgeschlossen wurde, hat sich seitdem deutlich besser entwickelt als der Leitindex selbst.

© SZ vom 21.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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