Strukturwandel:Halb zog es sie

Die jungen Hochqualifizierten hauen ab, andere bleiben: Wie kann der Staat abgehängten Regionen helfen? Deutschlands Ökonomen streiten, was die Politik machen kann.

Von Bastian Brinkmann, Leipzig

Der Homo Oeconomicus würde umziehen. Ostdeutsche könnten dreißig, vierzig Prozent mehr verdienen, wenn sie nach Westdeutschland ziehen, sagt Alexandra Spitz-Oener von der Humboldt-Universität. Aber die meisten bleiben mittlerweile im Osten, trotz des lockenden Gehaltssprungs. Der Mensch ist eben kein Homo Oeconomicus, der nur kalt rechnet, was mehr Geld bringt; diese Erkenntnis überrascht auf der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik keinen Teilnehmer. In dem Verein sind die deutschen Ökonominnen und Ökonomen organisiert, gerade haben sie sich in Leipzig getroffen und mehrere Tage diskutiert. Eine Kernfrage: Was tun mit den abgehängten Regionen?

Regionalwirtschaft wird momentan viel erforscht, Fördergeld fließt. Neue Erkenntnisse werden - so läuft es eben in der Wissenschaft - mitunter erst in Jahren vorliegen. Die Volkswirtschaftslehre und ihre Beobachter haben sich lange auf die Außenwirtschaft fokussiert: Warum verlagern Firmen Jobs ins Ausland, wie kann der Freihandel Produkte billiger machen?

Landtagswahl in Sachsen 2019 Wahlplakate der Parteien AfD und CDU neben einer Bushaltestelle 13 08

Alarm an der Haltestelle: Wenn kein Bus mehr kommt, identifizieren sich Bürger nicht mehr mit dem Staat, fürchten Ökononem.

(Foto: Dirk Sattler/imago)

Nun kehrt sich der Blick nach innen: Wie verschieben sich eigentlich innerhalb eines Landes Arbeitsplätze und Kapital, warum ziehen die Menschen von hier nach dort? "Für junge hoch qualifizierte Leute auf der ganzen Welt sind Ballungsräume attraktiver", sagt Spitz-Oener, die Arbeitsmärkte erforscht. Städte wie Berlin locken mit Kultur, Bildung und vielen Arbeitgebern, bei denen Menschen höhere Löhne heraushandeln könnten. Andere Menschen stünden vor "Mobilitätsbarrieren": Sie haben Familie, ein Haus. Diese Menschen seien sehr verhaftet in ihrer Region - und bewerten die Zukunftsfestigkeit ihres eigenen Arbeitsplatzes überoptimistisch, so die Humboldt-Professorin.

Die Metropolen stärken - oder die ländlichen Mittelzentren?

Wie kann der Staat den Menschen helfen, die außerhalb der Boomregionen wohnen? Weniger ist mehr, sagt Reint Gropp, der das Forschungsinstitut IWH in Halle leitet, und sich für diese These in Ostdeutschland schon viel Ärger eingehandelt hat. "Es ist sinnvoller, dort zu investieren, wo ganz viel Bedarf ist", sagt er. Wenn der Staat also abwäge, ob er eine Kita im Harz baue oder in Berlin, müsse er Gropp zufolge in Berlin investieren. Unternehmensberater würden sagen: Stärken stärken.

Das hält Jens Südekum für eine "Privatmeinung", die nicht auf Daten gestützt sei. Er fordert das Gegenteil: massive Investitionen in den ländlichen Raum. Zuletzt hat Südekum, Professor an der Universität Düsseldorf, viel Aufmerksamkeit erregt mit einer Analyse der abgehängten Regionen, die er zusammen mit dem arbeitgebernahen Forschungsinstitut IW vorgelegt hat. Der Ökonom gilt als einflussreiche Politikberater, wenn er redet, hören manchmal sogar Regierende zu.

Die Kommunalfinanzen hält Südekum für ein "riesiges Problem", vor allem manche Städte im Osten und in Nordrhein-Westfalen hätten gar keine Spielräume, um zu investieren. Er würde die Mittelzentren fördern, die für sehr viele Menschen in 20 Minuten erreichbar seien. Aber dafür brauche es Geld. Seine Befürchtung: Ein staatliches Investitionsprogramm könnte "zu mickrig" ausgestattet werden, weil die schwarze Null im Bundeshaushalt wichtiger bewertet werde.

Erfolge und Unterschiede nach der Wende

Die Erfolge der Wiedervereinigung, aber auch die hartnäckigen Unterschiede zwischen Ost und West füllen 124 Seiten: So dick ist der aktuelle "Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit", den das Kabinett am Mittwoch billigte. "Ein Glücksfall der Geschichte", sagte der Ostbeauftragte der Regierung, Christian Hirte (CDU), über die Wende. Und verwies auf das Wachstum, das im Osten zuletzt etwas stärker gewesen sei als im Westen, auf den ostdeutschen Arbeitsmarkt, auf dem Arbeitslosigkeit kaum noch eine Rolle spiele, oder darauf, dass zwei Drittel der Ostdeutschen ihre individuelle Situation als besser empfänden als vor 1990.

Der Einheitsbericht zeigt, dass die Wirtschaftskraft in Ostdeutschland heute 75 Prozent des Westniveaus erreicht hat, nach 43 Prozent 1990. Die Einkommen liegen bei 84 Prozent des Westens - die Einkommensunterschiede zwischen Schleswig-Holstein und Hessen sind größer als die zwischen Ost und West. Hirte, der aus Thüringen stammt, warnte davor, mit Blick auf die Einheit einen "negativen Gründungsmythos" zu beschwören. Es sei mitnichten so, dass der Westen den Osten "kolonialistisch niedergerungen" habe. Vielmehr sei die DDR "ökonomisch, ökologisch, politisch und moralisch vollkommen verschlissen" gewesen. Auch bei der Rente entspreche die Realität nicht immer dem, was diskutiert werde, sagte Hirte und verwies auf die "massive Privilegierung ostdeutscher Arbeitnehmer" durch die Aufwertung ihrer Löhne für die Rente.

Hirte sagte aber auch, die "Dramatik des gesellschaftlichen Wandels" im Osten sei oft im Westen nicht richtig wahrgenommen worden. Massenarbeitslosigkeit, Abwanderung von Familienmitgliedern, eine Infrastruktur, die sich im Osten nicht nur positiv entwickelt habe, niedrigere Löhne, das Fehlen großer, internationaler Unternehmen - all das gebe vielen Ostdeutschen das Gefühl, "kollektiv benachteiligt" zu sein. Henrike Roßbach

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