Süddeutsche Zeitung

Stromversorgung:Hier wird Deutschland vor dem Blackout bewahrt

  • Die Energiewende fordert die Betreiber von Deutschlands großen Stromtrassen heraus.
  • Sie müssen deutlich häufiger ins Netz eingreifen als früher. Dadurch entstehen für viele Stromkunden hohe Kosten.

Von Jan Schmidbauer

Es wird noch fast zwei Stunden dauern, bis das Unwetter Berlin erreicht. Auf dem Display von Philipp Nickus ist es aber schon zu sehen. Zwei lilafarbene Kreise leuchten auf, einer über Sachsen, der andere im Bereich Hamburg. "Das sind die Gewitterzellen", sagt Nickus. "Und die vielen Punkte, das sind die Blitzeinschläge." Nickus sitzt gemeinsam mit drei Kollegen in einem Flachbau wenige Kilometer östlich von Berlin. In diesem Gebäude entscheidet sich, ob Deutschland so funktioniert, wie die Menschen das erwarten. Ob in den Fabriken die Bänder rattern. Ob die U-Bahnen pünktlich abfahren. Ob in den Wohnungen die Fernseher flimmern.

Nickus' Arbeitsplatz ist die Leitstelle des Netzbetreibers 50 Hertz. Ein schlichter Raum, in dem ein gigantischer Bildschirm hängt. Darauf: ein Gewirr aus grünen und roten Linien. Es sind die Stromleitungen, für die 50 Hertz verantwortlich ist. Ein Netz mit einer Länge von etwa 10 000 Kilometern.

50 Hertz ist einer von vier Übertragungsnetzbetreibern in Deutschland. Anders als die sogenannten Verteilnetzbetreiber müssen sie nicht nur die Stromversorgung in den Städten und Dörfern sicherstellen. Die Übertragungsnetzbetreiber sind dafür verantwortlich, den Strom durch ganz Deutschland zu transportieren. Ihre großen Trassen sollen die Energie dort hinbringen, wo sie gebraucht wird, vom Kohlekraftwerk in die Großstadt, von den Windparks im Norden zu den energiehungrigen Fabriken im Süden. Gleichzeitig müssen sie die Spannung im Netz stabil halten, und damit das schlimmste aller Szenarien verhindern: den Blackout.

Einen solchen Totalausfall der Stromversorgung gab es im Netz von 50 Hertz noch nie. Doch Philipp Nickus und seine Kollegen müssen immer häufiger eingreifen, damit das so bleibt. Um das Netz stabil zu halten, müssen sie Kraftwerke zwangsweise anfahren oder abschalten. Diese Maßnahmen, die bei den Energiekonzernen "Redispatch" genannt werden, waren einmal für Notfälle gedacht. Heute gehören sie zum Alltag. Beinahe täglich müssen die Netzbetreiber eingreifen, damit der Stromfluss nicht zum Erliegen kommt.

Zwei Faktoren sind dafür verantwortlich. Aber es ist erst ihre Kombination, die Deutschlands Stromnetze an die Belastungsgrenze bringt: Auf der einen Seite ist der Anteil der erneuerbaren Energien rasant gewachsen. Gleichzeitig kommt der Bau der großen Stromautobahnen, die diese Energie transportieren sollen, nur schleppend voran. Frühestens 2025 sollen die neuen Trassen fertig werden.

Bis dahin könnten weiter hohe Kosten entstehen. Im Jahr 2015 kostete allein das angeordnete An- und Abschalten der Kraftwerke mehr als 400 Millionen Euro. Im vergangenen Jahr gingen die Kosten zwar auf etwa 220 Millionen Euro zurück. Doch das lag nach Ansicht von Experten auch an schwachen Windverhältnissen. Entwarnung gibt es nicht.

So erfreulich die Energiewende für das Klima ist: Die Betreiber der Trassen hat sie vor neue Herausforderungen gestellt. Während im Norden und Osten riesige Windparks entstanden sind, gehen im Süden die großen Atomkraftwerke schrittweise vom Netz. Der Strom wird oft nicht mehr dort erzeugt, wo er verbraucht wird. Kein Problem könnte man meinen; dann muss der Strom aus dem Norden eben in den Süden geleitet werden.

Doch dafür sind die Stromtrassen nicht ausgelegt - zumindest noch nicht. An manchen Tagen führt das zu paradoxen Situationen, die die Regeln der Marktwirtschaft aushebeln: Wenn sich Deutschlands Windräder auf Hochtouren drehen und die Sonne auf die Photovoltaik-Module brennt, fällt der Strompreis an der Börse. Viele Kohle- und Gaskraftwerke sind dann nicht mehr rentabel. In der Theorie müssten die Netzbetreiber nun den günstigen Grünstrom von Nord nach Süd bringen. Doch in der Praxis können sie einen großen Teil dieses Stroms gar nicht abtransportieren. Die Netzbetreiber müssen dann - obwohl der Strompreis im Keller ist - herkömmliche Kraftwerke im Süden kostenpflichtig anfahren lassen. Eine teure Sache.

Und dabei bleibt es nicht: Wenn die Netzbetreiber den Strom im Norden nicht abtransportieren können, verstopft er dort die Leitungen. Um das Netz vor dem Kollaps zu bewahren, müssen sie dann Kraftwerke und Windräder abschalten. Die Verluste, die den Betreibern dadurch entstehen, zahlen die Stromkunden über ihre Netzentgelte mit.

Besonders für Kunden, die in den Gebieten von 50 Hertz und Tennet wohnen, machen sich diese Eingriffe bemerkbar. In diesen Gebieten stehen deutlich mehr Windräder und Solaranlagen als in anderen Teilen des Landes. Die Unternehmen müssen deshalb viel häufiger eingreifen - und mehr kassieren. 50 Hertz erhöhte seine Netzentgelte vergangenes Jahr um 45 Prozent. Bei Tennet stiegen sie sogar um 80 Prozent, für einen Dreipersonenhaushalt ist das ein Aufschlag von etwa 30 Euro pro Jahr.

Stürmisches Wetter kann die Kosten wieder in die Höhe treiben

Viele bemängeln zudem eine ungerechte Verteilung der Kosten. Denn die unterschiedlichen Aufschläge der Netzbetreiber lassen die Strompreise deutschlandweit auseinanderdriften. Stromkunden im Osten zahlen tendenziell mehr für Energie als solche in Nordrhein-Westfalen. Mehrere Ministerpräsidenten dringen zwar darauf, die Netzentgelte bundesweit zu vereinheitlichen. Doch das Vorhaben scheiterte bislang am Widerstand aus Ländern, die von den steigenden Kosten weniger betroffen sind, zum Beispiel Nordrhein-Westfalen. Auch die Netzbetreiber sind gespalten. Das Unternehmen Amprion, das selten ins Netz eingreifen muss, will die bisherige Regelung beibehalten. Bei 50 Hertz pochen sie auf eine Angleichung der Netzentgelte.

In der Leitstelle versuchen sie derweil, die Kosten für die Eingriffe möglichst gering zu halten. Dabei hilft die Wettervorhersage. 50 Hertz kauft seine Daten bei sieben verschiedenen Diensten ein. Damit versucht das Unternehmen, die Einspeisung von Windrädern und Solaranlagen möglichst genau vorherzusagen und die Zahl der Eingriffe niedrig zu halten. Auch das Gewitter, das an diesem Tag Berlin erreicht, ist längst einkalkuliert. "Eine gute Prognose ist bei uns das Allerwichtigste", sagt Leitstellen-Chef Gunter Scheibner. Wie viele Stunden scheint die Sonne? Wie stark bläst der Wind? Für ihn und seine Kollegen sind das seit der Energiewende die entscheidenden Fragen.

Bei 50 Hertz hoffen sie, dass die Kosten dieses Jahr im Rahmen bleiben. Bislang sehe es gut aus, weil der Wind vergleichsweise schwach war, sagt Scheibner. Auch eine fertig gewordene Leitung brachte Entlastung. Entwarnen will Gunter Scheibner aber lieber nicht. "Wenn der Herbst stürmisch wird", sagt er, "kann alles wieder anders aussehen."

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Quelle:
SZ vom 22.06.2017/jps
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