Süddeutsche Zeitung

Stromnetze:Von Europa abgehängt

Die Schweizer sind mit der Energieversorgung unzufrieden. Das liegt nicht nur daran, dass Zürich immer öfter im Dunkeln liegt und Trams auf den Schienen stehen bleiben. Das hat auch politische Gründe.

Von Charlotte Theile, Zürich

Das Bild vorne im Hörsaal stockt. Jörg Spicker, Market-Leiter der schweizerischen Netzgesellschaft Swissgrid, hat gerade die Schweiz als "Strom-Mülleimer" Europas bezeichnet, jetzt steht sein Gesicht still und die Gäste im Hörsaal reden halblaut durcheinander. Kann es sein, dass die Schweiz bei einem so alltagsrelevanten Thema wie der Stromversorgung von Europa ausgebootet wird? Und wenn ja: Was bedeutet das für die Sicherheit des Landes? Spicker spricht inzwischen weiter, die Engpässe der Schweiz würden von den Nachbarländern nicht ausreichend berücksichtigt, ein Ausfall der Versorgungssicherheit immer teurer. Es ist ein komplizierter Fach-Vortrag, abseits der provokanten Mülleimer-Analogie geht es um Bewilligungsverfahren, Netzkapazitäten und Market Coupling. Und doch: Das Thema interessiert so viele Menschen, dass die Hochschule einen zweiten Saal aufbieten musste, Liveübertragung wie bei einem Promi-Besuch.

Der Volkswille soll umgesetzt werden, ohne die Verträge mit der EU zu gefährden. Aber wie?

Was ist da los? In Zürich ist die Stromversorgung in diesem Jahr zu einem wichtigen Thema geworden: Immer wieder waren ganze Stadtteile ohne Licht, Trams standen auf den Schienen, Touristen irrten ahnungslos vom Bahnhof in die dunkle Stadt. Unangenehm, und in der Schweiz, wo man sich daran gewöhnt hat, dass alles jederzeit reibungslos funktioniert, auch ein Anlass für große Aufregung.

Ein paar Wochen später. Zu den Zürcher Stromausfällen möchte Jörg Spicker beim Gespräch im Firmensitz Laufenburg eher wenig sagen. Verantwortlich seien die Elektrizitätswerke der Stadt Zürich (EWZ), beziehungsweise: Marder, die dort an wichtigen Kabeln nagen, Bagger, die bei Bauarbeiten aus Versehen eine Leitung beschädigen. Ärgerlich, aber auch ziemlich banal. Und die Mülleimer-Analogie? Da, sagt Spicker, werde es kompliziert. Und mit kompliziert meint der promovierte Astro-Physiker nicht unbedingt Frequenzen und Spannung. Kompliziert werde der Strom-Verkehr mit der Europäischen Union (EU) aus politischen Gründen.

"Die Verhandlungen über den Anschluss der Schweiz in den europäischen Strombinnenmarkt waren Ende 2013 auf einem guten Weg", erinnert sich Spicker. Dann stimmten die Schweizer im Februar 2014 über eine Zuwanderungsinitiative ab, mit knapper Mehrheit setzte sich die Position durch, die seither für Konflikte zwischen Bern und Brüssel sorgt: 50,3 Prozent der Schweizer stimmten für eine Begrenzung der Zuwanderung, die im direkten Widerspruch zur vereinbarten Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU steht.

Ein dichtes Netz

Nationale Grenzen? Gibt es nicht. Zumindest nicht für Strom in Europa. Das größte miteinander verbundene Netz der Welt reicht vom Nordkap bis nach Portugal, von der Türkei bis nach England. Damit der Strom in einem stabilen Übertragungsnetz fließen kann, muss sichergestellt sein, dass die Netzfrequenz konstant bei 50 Hertz liegt. Durch den Einsatz von Transformatoren kann Wechselstrom in der richtigen Spannung aus der Steckdose kommen. In Europa erfasst Swissgrid im Auftrag des Stromverbundes UCTE Abweichungen und koordiniert allfällige Korrekturen.

Wenn es Instabilitäten gibt, bekommt es das ganze Netz mit: Frequenz wird in Lichtgeschwindigkeit transportiert. Jörg Spicker von der Schweizer Netzgesellschaft Swissgrid beschreibt einen häufigen Fall: die Gemüse-Bewässerung in der Türkei im Sommer. Dort komme es vor, dass sehr große Pumpen ausfallen, "das sehen wir hier sofort, die gesamte europäische Netzbetreiber-Community." Innerhalb von Millisekunden greifen ausgleichende Maßnahmen, doch das ist nur ein erster Schritt.

In den ersten 15 Minuten nach einem solchen Ereignis muss die Frequenz gestützt werden - oder gesenkt, wenn zum Beispiel ein Stahlwerk vom Netz geht und plötzlich viel zu viel Strom da ist. "Auch das geht automatisch, aber da schaut immer noch mal ein Fachmann drüber." In der dritten Stufe, die vier Stunden nach einem Ereignis beendet ist, werde telefoniert und entsprechend Kraftwerke herauf- und heruntergefahren, um die Strommenge wieder auszugleichen. Nach vier Stunden sind die Stromhändler verantwortlich, die zum Beispiel Strom an das Stahlwerk verkauft haben. "Wir machen Notfallmaßnahmen", sagt Jörg Spicker, nach vier Stunden aber seien die Händler zuständig.

Was ist, wenn die sich nicht einigen können? Bricht dann doch die europäische Stromversorgung zusammen? Nein. Alles bleibe stabil, allerdings werde es dann ziemlich teuer für die Händler, sagt Spicker. "Dann greift ein sogenannter Ausgleichsenergiepreis, und bei dem verstehen wir keinen Spaß mehr." Charlotte Theile

In der Folge wurden die Schweizer aus dem Erasmus-Programm geworfen, die Verhandlungen darüber, wie der Volkswille umgesetzt werden kann, ohne die Verträge mit der EU zu gefährden, beschäftigt die Schweizer Politik bis heute.

Und die Schweizer Netzbetreiber? Wurden aus dem gemeinsam entwickelten Strombinnenmarkt wieder ausgeschlossen. Spicker seufzt. Ja, seither sei alles etwas umständlicher. Die Nachbarländer würden sich über Effizienzgewinne freuen, die Schweiz dagegen - mit 41 grenzüberschreitenden Leitungen so eng mit dem Ausland verbunden wie sonst kein anderer Markt - verliert jedes Jahr nach Berechnungen des Verbandes der Regulierer etwa 150 Millionen Euro. Geld, dass die Schweizer Stromkunden nicht in Form einer Tarifsenkung erhalten. Als Deutscher versteht Spicker zwar die politischen Absichten der Europäer, die der Schweiz vor Augen führen wollen, dass nicht beides möglich ist: Sich vom Projekt Europa zu distanzieren und gleichzeitig Nutznießerin der europäischen Integration zu sein. Andererseits vertritt der Physiker, der seit 2013 in der Geschäftsleitung von Swissgrid sitzt, die schweizerischen Interessen. Und wenn er von den Bedingungen erzählt, unter denen die Schweizer Netzgesellschaft im Moment mit den Nachbarländern handelt, klingt das wahnsinnig umständlich. Denn die Schweiz liegt mitten in Europa.

"Italien ist ein Importland. Und der Strom kennt keine Nationalgrenzen, er sucht sich aus physikalischen Gründen den schnellsten Weg mit dem geringsten Widerstand: Und das ist oft durch die Schweiz", sagt Spicker. Das heißt: Das Land muss die nötigen Kapazitäten bereithalten. Zudem gebe es Diskrepanzen zwischen dem, was angemeldet sei und dem, was in der Schweiz ankomme - etwa, weil die Energiewende in Deutschland für Volatilität sorgt, oder weil die Kernkraftwerke in Frankreich gerade auf Sicherheitsmängel überprüft werden und deshalb vorübergehend abgeschaltet wurden. "Außerdem gehen wir davon aus, dass sich die Situation in den nächsten Jahren noch verschärfen wird", sagt Spicker. Im Moment erfolge das sogenannte Market Coupling auf dem europäischen Strombinnenmarkt stets einen Tag im Voraus, in Zukunft will man sich bei der Marktkopplung immer näher an die Echtzeit bewegen. Die Kapazitätsgrenzen der Schweiz? Spielen dabei keine Rolle. "In Europa rechnen sie so, als wäre die Schweiz eine unbegrenzte Kupferplatte, man setzt die Höhe unserer Kapazität, grob gesprochen, gleich unendlich", sagt Spicker. Man tut also so, als könnte die Schweiz alle Schwankungen mit Leichtigkeit ausgleichen. In Wirklichkeit kommt die Schweizer Netzbetreiberin immer häufiger an ihre Grenzen. Und obwohl es immer eine Not-Reserve gibt, glaubt Spicker, dass diese Belastung nicht mehr lange gut gehen kann: "Irgendwann müssen wir die Flagge hissen und Notmaßnahmen einleiten." Diese seien eigentlich nur für ein paar Stunden gedacht. "Wir wissen nicht, was passiert, wenn wir die über eine lange Dauer einsetzen."

"Irgendwann müssen wir die Flagge hissen und Notmaßnahmen einleiten"

Doch es scheint, als würden es die anderen Marktteilnehmer auf einen Versuch ankommen lassen. "Für alle anderen ist die jetzige Lösung sehr effizient. Wenn sie wieder etwas abgeben sollen, um es der Schweiz, die nicht mal EU-Mitglied ist, zu erleichtern ..., ich glaube, die hätten politisch einen sehr schweren Stand."

Andererseits: Die Abhängigkeit von der Elektrizität ist inzwischen so hoch, dass schon kleinste Ausfälle sicherheitsrelevant und teuer sind. Und, obgleich Spicker das niemals sagen würde, eigentlich ist es alles andere als schlecht für die Netzbetreiber, wenn einmal zur besten Pendel-Zeit in Zürich der Strom ausfällt - und die Bürger für 30 Minuten erleben, wie abhängig sie von ihrer Arbeit sind. Doch auch abseits der Stromausfälle wird die Energieversorgung der Schweiz derzeit kontrovers diskutiert: Am 27. November stimmen die Schweizer über den Ausstieg aus der Atomenergie ab.

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Quelle:
SZ vom 21.11.2016
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