Süddeutsche Zeitung

Strommarkt:Mit aller Energie gegen die Konzerne

Die EU möchte den Strommarkt entflechten. Dabei geht es um nichts Geringeres als um die Zukunft Europas.

Jeremy Rifkin

An diesem Mittwoch will die Europäische Kommission einen umstrittenen, lange erwarteten Plan vorstellen. Ihr neues Gesetzespaket will Strom- und Gasunternehmen zum Verkauf ihrer Leitungen zwingen, um auf diese Weise den Wettbewerb zu fördern. Seit langem herrscht Streit um den Zugang zu Netzen und Pipelines.

Das Argument auch der EU-Kommission lautet: Solange riesige Energie-Erzeuger nicht nur den Strom liefern, sondern auch die Netze und Pipelines kontrollieren, durch die der Strom fließt - solange wird es für jeden Mitbewerber und Neueinsteiger schwierig sein, Zugang zu diesen Netzen zu erhalten.

Das Resultat: weniger Wettbewerb sowie das Risiko der Monopolisierung durch ein paar riesige Energiegesellschaften. Der Ausgang der Debatte könnte mitentscheidend in der Frage sein, ob die EU in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts eine ökonomische Supermacht sein oder in die zweite Reihe zurückfallen wird.

Neue ökonomische Ära

Die EU steht an der Schwelle zur dritten industriellen Revolution. Die Entflechtung vor allem des Elektrizitäts-Netzes ist entscheidend, um den Sprung in eine neue ökonomische Ära zu schaffen. In der Weltgeschichte haben sich die entscheidenden Veränderungen immer dann vollzogen, wenn das Entstehen neuer Energiesysteme mit dem Entstehen neuer Kommunikationssysteme einherging.

Wenn das der Fall ist, wird die Gesellschaft geradezu restrukturiert. Die frühe Moderne zum Beispiel war geprägt durch das Aufkommen der mit Kohle angetriebenen Dampftechnologie sowie durch die Druckerpresse. Beide zusammen waren die Geburtshelfer für die erste industrielle Revolution.

Es wäre unmöglich gewesen, die dramatische Beschleunigung, den Fluss und die Dichte wirtschaftlicher Aktivität zu organisieren, wenn man auf die alten Formen der Kommunikation beschränkt geblieben wäre.

Das späte 19. Jahrhundert und die beiden ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war en geprägt durch die erste elektrische Generation der Kommunikation (Telegrafie, Telefon, Radio, Fernsehen) sowie durch die Einführung des Öls und des Verbrennungsmotors. Auf diese Weise wurde die zweite industrielle Revolution möglich.

Eine weitere Revolution ereignete sich in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Eine Generation elektronischer Errungenschaften - Computer, Internet, drahtlose Kommunikationstechnologien - verband wie ein zentrales Nervensystem mehr als eine Milliarde Menschen auf der Welt mit Lichtgeschwindigkeit.

Obwohl diese Software- und Kommunikationsrevolution zu Produktivitätssteigerungen in fast jeder Branche geführt hat, ist ihr wahres Potential noch nicht erfasst.

Dezentralisierte Energienutzung

Künftig werden dieselben Prinzipien und Technologien, die das Internet und globale Kommunikationsnetzwerke ermöglicht haben, dafür eingesetzt, die Energienetze in der Welt umzugestalten - sodass die Menschen erneuerbare Energie herstellen und auf dieselbe Weise miteinander teilen können, wie sie jetzt miteinander Informationen teilen. Dies wird zu einer neuen, dezentralisierten Form der Energienutzung führen.

Dezentrale Verteilernetze, sogenannte Intergrids, werden zurzeit in den USA und Europa getestet. Sie setzen sich aus drei Komponenten zusammen. Kleinste Netzwerke, Minigrids, ermöglichen es sowohl Hausbesitzern als auch Inhabern kleiner und mittlerer Betriebe und großer Wirtschaftsunternehmen, jeweils vor Ort wiederverwendbare Energie zu produzieren, mit Solarzellen, Wind, oder Müll - und für ihre eigenen Bedürfnisse zu nutzen.

Eine intelligente Zähluhr-Technologie wiederum ermöglicht es örtlichen Produzenten, sowohl Energie effektiv ans allgemeine Stromnetz zu verkaufen als auch diesem Netz Energie zu entnehmen. Und drittens ist in dieser Netzwerk-Technologie jeder mit jedem verbunden.

Diese Zusammenschaltung kann genutzt werden, um den Fluss von Energie zu steuern, je nachdem, wann und wo sie gerade mehr oder aber weniger gebraucht wird - je nach Wetter oder den Anforderungen der Kunden. Wenn zum Beispiel dem Stromnetz Überlastung droht, da gerade besonders viel Energie konsumiert wird, kann die Software beispielsweise dafür sorgen, dass Klimaanlagen um ein Grad Celsius heruntergeschaltet werden.

Das erfordert natürlich Kunden, die sich zu geringfügigen Anpassungen ihrer Stromnutzung bereit erklären. Dafür erhalten sie Gutschriften. Da zudem der Preis für Strom aus dem Netz auch im Lauf einer 24-Stunden-Periode variabel ist, werden die Kunden die Möglichkeit haben, ihren Stromgebrauch zu senken oder zu erhöhen, je nachdem, wie hoch der Preis aus dem Netz ist.

Eine solche Preisgestaltung aus dem Augenblick heraus ermöglicht auch örtlichen Produzenten, ihren Strom entweder über das Minigrid-Netz zu verkaufen oder ganz aus dem Netz zu gehen. Diese Dezentralisierung wird den Endkunden nicht nur mehr Möglichkeiten zur Wahl ihrer Energie geben, sondern auch wesentlich mehr Effizienz bei deren Verteilung ermöglichen.

Offen wie das Internet

Das alles führt mich zurück zu der anstehenden Entscheidung der EU-Kommission, das Stromnetz von den Energiefirmen zu trennen. Das Intergrid-System ist wie das Internet, mit einer deutlichen Ausnahme. Niemandem gehört das Internet. Regierungen regulieren das Internet aber, damit jeder den offenen und universellen Zugang genießen kann.

Analog dazu sollte ein intelligentes Stromnetz so offen und zugänglich wie das Internet sein - um es den Anbietern und Nutzern genauso einfach zu machen, Energie zu nutzen, wie sie Informationen teilen.

Wäre das Internet eine geheime Technologie geblieben, weltweit in der Hand von wenigen Großunternehmen, wären die großen Informations- und Kommunikationsrevolutionen der Neunziger und des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts langsamer verlaufen oder abgewürgt worden.

Intergrid und Internet sind sich von Natur aus ähnlich, sodass manche Analytiker vorgeschlagen haben, die EU solle das Stromnetz einer Behörde übertragen, um denselben universellen Zugang und dieselbe Transparenz herzustellen, wie wir sie beim Internet inzwischen als gegeben annehmen.

Es wäre dies die Verwirklichung des alten demokratischen Grundsatzes: "Alle Macht dem Volke". Für eine jüngere Generation, die in einer weniger hierarchischen, dafür aber stärker vernetzten Welt aufwächst, wird die Möglichkeit, Energie auf dieselbe Weise zu produzieren und zu teilen, wie sie Informationen produziert und teilt, alltäglich sein. Die dritte industrielle Revolution wird mit der Entflechtung des Stromnetzes beginnen.

(SZ vom 19.09.2007)

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Quelle:
Der Ökonom Jeremy Rifkin ist Gründer und Präsident der "Foundation on Economic Trends" in Washington.<p>Übersetzung: Tobias Matern</p>
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