Süddeutsche Zeitung

Streit um Hartz IV:Guidos Geschwätz

Guido Westerwelle gibt sich als Kämpfer für Gerechtigkeit, wenn er verlangt: Wer arbeitet, muss mehr haben, als der, der nicht arbeitet. Neue Zahlen belegen: Der FDP-Chef fordert, was längst Realität ist.

T. Öchsner

Wer arbeitet, muss mehr haben, als derjenige, der nicht arbeitet. Das fordert derzeit nicht nur FDP-Chef Guido Westerwelle. Gegen dieses Prinzip hat eigentlich niemand etwas einzuwenden. Die entscheidende Frage ist aber, ob es sich auch lohnt, zu arbeiten. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat dazu am Montag eigene Berechnungen vorgelegt - mit einem klaren Ergebnis: Danach hat auch im Niedriglohnsektor ein Arbeitnehmer, der Vollzeit arbeitet, mehr Geld zur Verfügung als ein vergleichbarer Empfänger von Hartz IV.

Der Gesamtverband präsentierte in Berlin 196 Beispielrechnungen für verschiedene Haushalte und Niedriglohnbranchen wie das Wachgewerbe, die Leiharbeit, Callcenter, den Einzelhandel oder die Gastronomie. Zugrundegelegt wurden dabei jeweils Vollzeitstellen mit einem Bruttostundenlohn von mindestens 5,90 Euro, um sich auf die breite Mehrheit der Geringverdiener zu konzentrieren. In allen diesen Beispielen ist nach der Untersuchung ein Abstand zu Hartz IV gewahrt.

Wer einen Vollzeitjob hat, kann je nach Haushaltstyp zwischen 260 und 900 Euro mehr im Monat ausgeben. "Wer arbeitet, hat immer mehr", sagt der Hauptgeschäftsführer des Verbands, Ulrich Schneider. Eine alleinstehende westdeutsche Verkäuferin mit einem Bruttoarbeitslohn von knapp 1600 Euro hat demnach netto rund 400 Euro mehr als eine Hartz-IV-Empfängerin ohne Kinder. Die geringsten Differenzen fand der Wohlfahrtsverband bei kinderlosen Paaren.

Schneider wandte sich gegen Berechnungen, die in der von Westerwelle angestoßenen Debatte über den Sozialstaat bislang eine entscheidende Rolle spielten. Dabei geht es um das Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler. Das Institut hatte als Beispiel einen Alleinverdiener mit Ehefrau und zwei Kindern genannt, das bei einem Bruttoverdienst von 1262 Euro mit Kindergeld auf ein monatlich verfügbares Einkommen von 1375 Euro komme. Mit Hartz IV hätte diese Familie jedoch 1653 Euro, also deutlich mehr. Allerdings könne sich diese Familie die Differenz von 268 Euro vom Staat aufstocken lassen, so dass das verfügbare Einkommen der Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaft wieder erreicht sei.

Kritik an Kieler Institut für Weltwirtschaft

Schneider hält solche Zahlenbeispiele für "dubios". Denn die Familie des Alleinverdieners hätte ein Recht auf Wohngeld und den Kinderzuschlag, der es Familien mit einem bestimmten Mindesteinkommen ermöglichen soll, aus dem Hartz-IV-System herauszukommen. Ihr Einkommen beträgt nach Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbands also nicht 1375 Euro, sondern 1925 Euro - etwa 550 Euro mehr. Den schmalen Lohn mit Hartz IV aufstocken darf und muss die Familie gar nicht. Schneider kritisierte zugleich Zahlenbeispiele des Kieler Instituts für Weltwirtschaft. Auch hier seien Wohngeld und Kinderzuschlag einfach ignoriert worden.

"Es drängt sich der Verdacht auf, dass hier mit fehlerhaften Berechnungen Klima und Politik gemacht werden sollen", sagte Schneider. Nur mit Hilfe solcher unvollständiger Zahlen zum Einkommen von erwerbstätigen Familien sei es möglich, den Menschen zu suggerieren, Hartz-IV-Empfänger hätten mehr Geld als Geringverdiener und Arbeit lohne sich in solchen Fällen nicht mehr.

Um Familien mit geringem Einkommen stärker zu unterstützen, fordert der Verband, die Mindesteinkommensgrenze für den Kinderzuschlag von 900 Euro für Paare und 600 Euro für Alleinerziehende abzuschaffen. Statt 300.000 Kindern ließen sich so doppelt so viele Kinder aus dem Hartz-IV-Bezug herausholen. Den Staat würde dies aber bis zu zwei Milliarden Euro mehr kosten. Von niedrigeren Einkommensteuern, wie sie die Koalition plant, würden Geringverdiener dagegen kaum profitieren. Diese Menschen zahlten keine oder kaum Steuern, sagte Schneider.

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SZ vom 02.03.2010/mel/woja
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