Streit um die Geldpolitik:Christine Lagardes heikle Mission

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Ökonomen erwarten, dass die neue EZB-Chefin die lockere Geldpolitik fortsetzt. Doch während manche das zur Abwehr einer Krise unverzichtbar finden, fürchten andere Immobilienblasen und Sparerfrust.

Von Alexander Hagelüken, München

In Spanien stehen auch zehn Jahre nach der Immobilienkrise Geistersiedlungen - Skeptiker warnen vor solchen Gefahren durch lockere Geldpolitik. (Foto: Cesar Manso/AFP)

Hat Mario Draghi den Euro gerettet - oder vor allem Sparer mit Nullzinsen gequält und die Europäische Zentralbank ins Abseits manövriert? Selten hat ein Geldpolitiker die Bürger so gespalten. Nachfolgerin Christine Lagarde kündigte nun in der ersten programmatischen Rede erneut an, die Strategie der EZB zu überprüfen. Bemerkenswert: Von der SZ befragte Ökonomen glauben, dass Lagarde Draghis Kurs weitgehend fortsetzt. Sie debattieren leidenschaftlich, ob diese lockere Geldpolitik notwendig ist - oder gefährlich.

"Christine Lagarde wird ähnlich handeln wie Mario Draghi", sagt Hagen Krämer von der Uni Karlsruhe. Wie viele Forscher. Im Unterschied zu anderen findet Krämer das aber richtig: "Lagarde kann gar nicht anders." Die EZB habe nicht den Auftrag, Sparern hohe Zinsen zu gewähren - sondern die Inflation im Euroraum zwei Prozent anzunähern. Allein um der Gefahr fallender Preise zu begegnen, die Volkswirtschaften lähmen wie in der Depression der 1930er-Jahre. Dieses Inflationsziel verfehlt sie, also müsse sie weiter lockere Geldpolitik betreiben. Nach Konsensvorhersagen steigen die Preise auch in fünf Jahren nur um 1,7 Prozent - zu wenig.

Kritiker sagen: Anders als die US-Notenbank Fed habe die EZB keinen Spielraum mehr

Der Wirtschaftsweise Volker Wieland widerspricht entschieden. Ob das Inflationsziel nun 1,9 Prozent sei, wie jüngst von Draghi ohne EZB-Beschluss behauptet, oder doch eher 1,7 Prozent, wie Schätzungen auf Basis der EZB-Politik seit 1998 nahelegten - "das macht den Speck nicht fett. Jedenfalls ist der Abstand der Inflation zu diesen Zielwerten derzeit nicht so groß, dass man den Holzhammer herausholen müsste". Damit meint er, dass die EZB seit November wieder Staatsanleihen kauft, was viele nationale Gouverneure kritisierten. Für Wieland sind die Käufe unnötig, gefährden aber die Finanzstabilität noch mehr. Bei Banken wie bei Staaten: "Die haben den Anreiz, ihre Schulden weiter zu erhöhen."

Hagen Krämer hält dagegen die Gefahr der Deflation, also fallender Preise, für unterschätzt. Die Deutschen fürchteten stets steigende Preise, weil im kollektiven Gedächtnis die Hyperinflation von 1923 und die Währungsreform 1948 verankert sei. Dafür habe auch die Bundesbank gesorgt. "In Wahrheit leben wir eher in einer Deflations- als in einer Inflationswelt." Amerikanern sei vor allem die deflationäre Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre präsent. Ex-IWF-Chefökonom Olivier Blanchard empfiehlt Notenbanken nicht zwei Prozent Inflationsziel - sondern doppelt so viel. "Die Eurozone war einer Deflation von 2008 bis 2014 gefährlich nahe", warnt Krämer, "kommt jetzt eine Krise, droht wieder Deflation." Dem begegne die EZB durch Anleihekäufe und Negativzinsen.

"Wo ist das Problem damit?", fragt Peter Bofinger provokant. "Ich sehe die ganzen Fehlentwicklungen nicht, die man der EZB vorwirft." Der langjährige Wirtschaftsweise relativiert etwa die Klagen deutscher Sparer. "Ja, Sparbücher warfen nach Abzug der Inflation in den acht Draghi-Jahren minus 0,7 Prozent Zinsen ab. Aber in den Mark-Bundesbank-Jahren 1967 bis 1998 war der Realzins im Schnitt auch null." Kein großer Unterschied. Früher waren die Zinsen vor Inflation höher, aber eben auch die Inflation.

Außerdem gibt es nicht nur im EZB-Gebiet niedrige Zinsen, sondern weltweit. Volkswirte diskutieren derzeit engagiert, woran das genau liegt, ob an Alterung, Globalisierung, Digitalisierung, Ungleichheit oder einer Mischung. Die Diagnose an sich bezweifelt kaum einer. Und viele glauben, dass die Zinsen lange niedrig bleiben.

Peter Bofinger streitet auch ab, dass die Zentralbank eine gefährliche Kreditflut produziere. Oder eine Immobilienblase. "Die Hauspreise sind in einzelnen Euro-ländern überhöht, aber nicht generell. Lagarde kann ihre Geldpolitik nicht an ein paar deutschen Großstädten ausrichten." Wenn die Immobilienpreise regional bedenklich stiegen, müsse nicht die EZB gegensteuern, sondern die Regierung.

Sein Ex-Weisenkollege Volker Wieland bezweifelt, dass das so einfach ist. "Spanien versuchte es vor der Immobilienkrise ohne Erfolg" - 2012 mussten die Euro-Partner 40 Milliarden Euro in Spaniens Banken pumpen. "Selbst der Europäische Ausschuss für Systemrisiken warnt, dass die deutschen Immobilienpreise zu schnell steigen. Ein wichtiger Grund sind die niedrigen Zinsen." Er sieht echte Risiken, dass die Preise zu stark steigen und eine scharfe Korrektur kommt. Und er versteht die Sparer, die sichere Anlagen wünschen: "Für die ist der Negativzins schlecht."

Auch Wieland erwartet, dass Lagarde Draghis Lockerkurs fortsetzt, aber es sorgt ihn. Anders als die US-Notenbank Fed habe die EZB keinen Spielraum mehr. Die Fed erhöhte die Leitzinsen früh über null und schuf so Spielraum, die Zinsen zu senken, wenn die Konjunktur abflaut (siehe Grafik). Weil die Eurozone seit 2013 wirtschaftlich wachse, hätte Draghi die Anleihekäufe 2016 beenden und 2018 die Zinsen erhöhen sollen: "Diesen Moment hat die EZB verpasst." Nun verharren die Leitzinsen bei null und die Zentralbank kann kaum noch handeln, falls sich etwa die aktuelle Konjunkturdelle zur Krise ausweitet.

Ein anderer prominenter Ökonom beklagt, Draghis Politik habe bei Eurostaaten wie Italien die Erwartung geschaffen, die Zentralbank löse stets ihre Probleme. Die Niedrigzinsen entlasten die Etats, darauf pochten die Regierungen weiter - keine Aussichten auf eine Zins-Normalisierung, die Sparer erhoffen. "Die EZB steckt im Dilemma. Wenn mein Bruder ein Spieler ist, sich von Kredithaien Geld leiht und dann die Knochenbrecher vor der Tür stehen, dann gebe ich ihm das Geld, obwohl ich es vielleicht falsch finde."

Ökonomen wie Krämer betonen dagegen, Draghi habe den Euro gerettet - und finden seine Politik insgesamt gut. Auch sie sehen allerdings das Problem, dass Lagarde kaum handeln kann, wenn die Leitzinsen null sind. "Die EZB hat ihr Pulver weitgehend verschossen. Sie kann die Zinsen nicht mehr senken", räumt Krämer ein. Er hat aber eine Antwort darauf. "Jetzt wäre es Zeit für Fiskalpolitik. Staaten wie Deutschland sparen stattdessen und konterkarieren so die EZB-Politik."

Krämer schlägt vor, dass die Regierungen mehr investieren - Kredite dafür sind angesichts von Null- und Negativzinsen unvergleichbar billig. Während Ökonomen wie Volker Wieland fürchten, dass sich die Regierungen dadurch in zu hohe Schulden stürzen, wird Christine Lagarde Krämers Ruf gerne hören. In ihrer Rede am Freitag beim Frankfurter Bankentag forderte sie einen neuen Politikmix: Mehr staatliche Investitionen, um Verantwortung von der Geldpolitik der EZB zu nehmen - "und sicherzustellen, dass Europa in einer unsicheren Welt Erfolg hat."

© SZ vom 25.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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