Es braucht nicht viel, damit Bisphenol A in den Körper gelangt: Eine Portion Ravioli aus der Konservendose. Einen Kassenzettel im Supermarkt. Einen Happen von der Plastikgabel. Bei der Produktion all dieser Dinge werden meist Polykarbonat-Kunststoffe oder Epoxidharze eingesetzt - in beidem findet sich die umstrittene Chemikalie Bisphenol A (BPA).
Umstritten ist die Substanz, weil sie im Körper wirken kann wie ein Hormon, in der Fachsprache endokriner Disruptor genannt. Babyflaschen tragen mittlerweile den Vermerk "BPA free": Die EU-Kommission hat den Stoff 2011 in den Fläschchen verboten. In anderen Produkten aber ist er weiterhin erlaubt, obwohl verschiedene Studien Unfruchtbarkeit, Tumore oder Herz-Kreislauf-Störungen mit der Chemikalie in Verbindung bringen.
Dass der Mensch Bisphenol A aufnimmt, wird dabei kaum mehr angezweifelt. Amerikanische Forscher haben die Chemikalie schon Anfang der 2000er Jahre bei fast allen ihren Probanden im Urin nachgewiesen. Im Rahmen einer Studie der Centers for Disease Control and Prevention, die dem US-Gesundheitsministerium unterstellt sind, wurde bei mehr als 90 Prozent aller Erwachsenen Bisphenol A gefunden. Doch was das für den menschlichen Organismus bedeutet, darin ist sich die Wissenschaft alles andere als einig. Ist der Stoff gefährlich oder - zumindest in geringen Mengen - unbedenklich?
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"Die Dosis macht das Gift"
Die Komplexität der Debatte zeigt sich allein darin, dass die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) momentan mit ihrem Grenzwert hadert. Vor acht Jahren hatte die EFSA eine tägliche Aufnahmemenge von 50 Mikrogramm pro Kilogramm Körpergewicht als unbedenklich festgesetzt. Damals hatte sie die Grenze sogar noch angehoben, ursprünglich hatte die bei zehn Mikrogramm pro Kilogramm gelegen. Jetzt allerdings ist das genaue Gegenteil der Fall: Der Wert soll gesenkt werden. Auf fünf Mikrogramm. In ihrem Entwurf des neuen Gutachtens hält die ESFA "gesundheitsrelevante Wirkungen" von Bisphenol A auf Leber, Niere und Brust für "wahrscheinlich". Folgen für die Fruchtbarkeit, das Nerven- oder Herz-Kreislauf-System dagegen für "weniger wahrscheinlich".
"Grund für die neue Einschätzung ist unter anderem, dass man festgestellt hat, dass Mäuse die Substanz schneller verstoffwechseln als der Mensch", sagt Detlef Wölfle vom Bundesinstitut für Risikobewertung. Wenn eine Maus und ein Mensch gleich viel Bisphenol A pro Kilogramm Körpergewicht aufnehmen, ist die Konzentration an nicht verstoffwechseltem Bisphenol A im menschlichen Blut also höher. Weil viele Studien durch Versuche mit Mäusen zu ihren Ergebnissen kommen, die dann mit Hilfe eines entsprechenden Unsicherheitsfaktors auf den Menschen übertragen werden, müsse man jetzt nachjustieren. Konsequenz hieraus ist die Absenkung des Grenzwertes.
Dem Grenzwert liegt die Annahme zugrunde, dass das Bisphenol A erst ab einer bestimmten Menge schädlich für den Menschen ist. "Die Dosis macht das Gift" sagt Wolfgang Völkel vom Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit. Die tatsächlichen Aufnahmemengen, die bisher beim Menschen festgestellt wurden, liegen ihm zufolge sowieso weit unter den Toleranzgrenzen. Selbst wenn man sie jetzt auf fünf Mikrogramm herabsetze.
Wenn man sich ansieht, wie die Substanz in den Körper gelangt, scheint das plausibel: Bei der Herstellung von Polykarbonat oder Epoxidharzen werden lange Ketten aus BPA-Molekülen gebildet, das Bisphenol A wird fest in das Polymer gebunden. Es kann zwar auch wieder freigesetzt werden, Spuren von Bisphenol A können dann ins Essen gelangen und so wiederum in den menschlichen Organismus. "Aber eben nur in sehr geringem Maße", sagt Wölfle. Vor allem wenn der Stoff direkt über die Haut aufgenommen wird, wie das zum Beispiel bei Kassenzetteln aus Thermopapier der Fall ist.
Bisphenol A könnte sich in der Plazenta anreichern
Im Körper kann das Bisphenol A allerdings an die gleichen Stellen andocken, wie es die gewöhnlichen Sexualhormone tun - und auf diese Weise den Hormonhaushalt beeinflussen. Zwar wird Bisphenol A in Darm und Leber relativ schnell umgebaut, um es vollständig wieder ausscheiden zu können. "Doch da Bisphenol A stark fettlöslich ist, kann man nicht ausschließen, dass ein gewisser, möglicherweise gefährlicher Prozentsatz der Substanz noch länger im Körper verbleibt", sagt Professor Dieter Swandulla vom Institut für Physiologie der Universität Bonn, an dem er sich mit Bisphenol A und seiner Wirkung auf die Zellstrukturen beschäftigt hat. Es könne sein, dass Bisphenol A sich zum Beispiel im Fettgewebe oder der Plazenta anreichere. Dazu gebe es fast keine fundierten wissenschaftlichen Untersuchungen, sagt Swandulla.
Dabei spült die Wissenschaft eine Flut an Studien auf den Markt, seit Bisphenol A ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt ist. Im Jahr sind es nach Angaben des Bundesinstituts für Risikoforschung mehrere Hundert. Manche mit offensichtlichen Forschungsmängeln, andere mit weniger gut erkennbaren, wiederum andere mit durchaus verlässlichem Setting. Die Sichtung all dieser Experimente und Ergebnisse braucht Zeit. Auch dadurch sind die unterschiedlichen Bewertungen der EFSA zu erklären: Ständig kommen neue Erkenntnisse hinzu, die es neu einzuordnen gilt.
Der Stoff ist überall
Dass es jemand schafft, überhaupt nicht mit Bisphenol A in Berührung zu kommen, ist schier unmöglich: Der Stoff ist überall. Nicht nur in Produkten wie Plastikgabeln oder Plastiktellern, sondern auch in Mobiltelefonen, Brillengläsern, oder Motorradhelmen kann Bisphenol A enthalten sein. Weltweit werden mehr als drei Millionen Tonnen der Chemikalie produziert, allein in Europa mehr als eine Million Tonnen.
Swandulla hält von Toleranzgrenzen deshalb nicht viel: "Da die meisten von uns wahrscheinlich chronisch mit Bisphenol A belastet sind, das heißt die Substanz permanent im Körper haben, sind Grenzwerte für die Aufnahme wenig hilfreich", sagt der Wissenschaftler der Universität Bonn. Es müssten Konzepte gefunden werden, um die Chemikalie komplett vermeiden zu können.
Aber wäre es damit getan? Kritiker führen manchmal an, dass Bisphenol A zu viel Aufmerksamkeit geschenkt werde - schließlich gebe es trotz der hohen Produktionsmengen noch sehr viele andere, unerforschte Stoffe, denen man im Alltag ständig ausgesetzt sei und die auch wie ein Hormon wirken könnten. "BPA ist nur ein Beispiel aus einer Vielzahl von Substanzen, die die Umwelt sowie unseren Organismus belasten und die in unserem Körper nachweisbar sind", sagt auch Swandulla. Für die meisten dieser Substanzen gebe es ihm zufolge bisher keine brauchbaren Risikobewertungen. Eine Flut an Studien erst recht nicht.