Streik-Forschung:Der Brückenbauer

Wenn zwei sich streiten - die Rolle des Sozialpolitikers Rudolf Wissell bei der Gestaltung von Tarifwesen und Schlichtung in Deutschland. Eine historische Einordnung.

Godehard Weyerer

Wie viele Arbeitslose kann sich eine Volkswirtschaft leisten? Eine Frage, die uns Jahr für Jahr mehrere hundert Milliarden Euro kostet. Aber wie lässt sich die vorhandene Arbeit gerechter verteilen? Schafft Lohnzurückhaltung neue Arbeitsplätze?

Tarifrecht und Schlichtungswesen - zwei Eckpfeiler im kollektiven Arbeitsrecht, die über Jahre die Konsensgesellschaft Deutschland trugen und für die die Gewerkschaften lange hatten kämpfen müssen, stehen auf dem Prüfstand. Stichworte: Kombi- und Niedriglohn, geringfügig vergütete Arbeitsverhältnisse, Bezahlung unter Tarif, Abschaffung von Flächentarifverträgen und Tarifautonomie.

"Wir fangen noch einmal von vorn an", verkündete Max Weber mit Blick auf die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Der Kaiser hatte abgedankt, die Soldaten strömten zu Hunderttausenden von der Front zurück in die Heimat, auf den Straßen herrschte bürgerkriegsähnliches Chaos. Für einen Reformkurs und gegen den revolutionären Umsturz hatten sich die SPD-nahen Gewerkschaften ausgesprochen.

Vertragsordnung für Tarifverträge

Ein energischer Verfechter dieser Grundsatzentscheidung war Rudolf Wissell, gelernter Schlosser und Maschinenbauer aus Kiel und 1891 Mitbegründer des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes. Seit 1908 war er in der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands zuständig für sozialpolitische Fragen und 1918/19 deren zweiter Vorsitzender. Im Stinnes-Legien-Abkommen kannten die Arbeitgeberverbände die Gewerkschaften erstmals "als berufene Vertreter der Arbeiterschaft" an.

Am 23. Dezember 1918 erließ die Reichsregierung die Tarifvertragsordnung. Kollektive Tarifverträge wurden zum zentralen Leitprinzip im Arbeitsrecht und in der Lohnfindung. Untertarifliche Bezahlung war fortan verboten; einigten sich beide Tarifpartner nicht, vermittelte ein Schlichtungsausschuss, dessen Schiedsspruch aber nur als Vorschlag galt. Hier wurde schnell nachgebessert: In Streitfällen konnte der Reichsarbeitsminister einen solchen Spruch für verbindlich erklären.

Der Brückenbauer

Zunächst aber überwog die Übereinstimmung der beiden Tarifpartner. Stellvertretend für die im Reichsverband der Deutschen Industrie herrschende Meinung wollte der Braunkohlenindustrielle Paul Silverberg es "lieber mit organisierten als mit unorganisierten Massen zu tun haben".

Tarifverträge hatte es in Deutschland, wenn auch sporadisch, bereits seit der Jahrhundertwende gegeben. Was freilich nutzte ein Vertrag den Arbeitern, solange sich die wilhelminischen Unternehmer als Herren im eigenen Haus gerierten, die sich nach Gutdünken an das tariflich Vereinbarte hielten oder es sein ließen? Da verschlug es den bis dahin missachteten Gewerkschaftsvertretern fast die Sprache, als die Fabrikherren ihnen den Status eines gleichberechtigten Verhandlungspartners in Aussicht stellten.

Das unerwartete Angebot wurde im Oktober 1918 unterbreitet, wenige Wochen vor der längst besiegelten Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Arbeitgeber und Arbeitnehmer, so der Vorschlag der Letzteren, sollten die Löhne künftig unter sich aushandeln.

Kurz nach Kriegsende - die Unternehmer bangten um ihr Eigentum, und die Revolution nagte auch am Einfluss der Gewerkschaften - einigten sich die neuen Partner unter Führung des Mülheimer Industriellen Hugo Stinnes und des Gewerkschaftsfunktionärs Carl Legien.

Die Krise eskalierte

Mittlerweile war Rudolf Wissell aufgerückt an die Seite Friedrich Eberts, des Vorsitzenden des Rates der Volksbeauftragten, der quasi kommissarisch das Erbe des bankrotten deutschen Kaiserreichs verwaltete. Straßenkämpfe tobten. Ende Dezember 1918 eskalierte die Krise. Ebert erteilte den Freikorps-Truppen den Schießbefehl; vor dem Berliner Schloss starben 70 Revolutionsgardisten.

"Eberts Blutweihnacht" führte am 29. Dezember 1918 zum Rücktritt der drei Volksbeauftragten der USDP (der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands). Wissell rückte nach; er war im Kabinett, das sich nun "Reichsregierung" nannte, für Wirtschaftspolitik zuständig. Dem staatlichen Leben wollte er "neuen Geist einhauchen"; Sozialisierung war dabei das Schlüsselwort.

Anfang März 1919 erläuterte er in einer Rede vor der Deutschen Nationalversammlung seine Vision von Gemeinwirtschaft und Selbstverwaltung. Dem Staat als Sachverwalter des Gemeinwohls wollte er die Aufsicht übertragen - ein programmatischer Vorbote der später praktizierten staatlichen Zwangsschlichtung. Produzenten und Verbraucher, Arbeiternehmer und Arbeitgeber sollten in allen regionalen Selbstverwaltungsorganen bis hinauf zum Reichswirtschaftsrat paritätisch vertreten sein. Wissells Vision einer Gemeinwirtschaft scheiterte am Einspruch der Kabinettskollegen. Dem Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit in Fragen von Tariflohn und Schlichtung stimmte die Reichsregierung aber zu.

Zu Kaiserzeiten hatten den Schlichtungsämtern Offiziere vorgestanden. Nach dem Krieg beschlossen Gewerkschaften und Unternehmer, an deren Stelle Schlichtungsausschüsse einzurichten, zusammengesetzt je zur Hälfte aus Vertretern der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. Diese Ausschüsse sollten bei Tarifstreitigkeiten vermitteln. Das Recht, in "wichtigen Fällen" einzugreifen, hatte sich der Staat vorbehalten.

Der Brückenbauer

Das Bündnis zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern war nicht von Dauer. Die Angst vorm revoltierenden Elan der arbeitenden Massen verebbte schnell. Ziel der Unternehmer war es nun, die Zugeständnisse in Sachen Arbeitslohn, Arbeitszeit und Sozialleistungen wieder zurückzunehmen; ein Dorn im Auge war ihnen vor allem die Verbindlichkeitserklärung. In seinen Memoiren schrieb Wissell: "Geschichtsschreiber späterer Jahrhunderte werden bei diesem Kapitel ähnliche Gefühle haben wie der heutige Historiker bei der Schilderung von Kinderkreuzzügen und Hexenprozessen."

Wen wundert es, dass sich in den Schlichtungsausschüssen die Vertreter der Arbeitgeber und Arbeitnehmer in aller Regel auf keinen Schiedsspruch mehr einigen konnten? Streiks und Aussperrungen nahmen überhand. Die junge Republik stand vor dem wirtschaftlichen Ruin.

Im Oktober des Krisenjahrs 1923, als wegen des Ruhrkampfes, der Hyperinflation und der nicht länger aufzuschiebenden Währungsreform der Ausnahmezustand verhängt wurde, führte Reichskanzler Gustav Stresemann per Ermächtigungsgesetz die staatliche Zwangsschlichtung ein: Der Reichsarbeitsminister konnte ausufernde Arbeitskämpfe kraft seines Einigungsspruches beenden.

Entspannung in den 20ern

Die Situation entspannte sich; die "goldenen 20er Jahre" brachen an. "Auf der Grundlage einer blühenden Wirtschaft, die hohe Gewinne abwirft", ließ sich für Heinrich Brauns, den Reichsarbeitsminister, "eine andere Sozialpolitik durchführen als auf der Grundlage einer Wirtschaft, der es am nötigsten fehlt". Bald wurde jeder zweite deutsche Industriearbeiter nach Tarifen bezahlt, die die Regierung zuvor festgelegt hatte. Auch der Sozialdemokrat Rudolf Wissell, Brauns Nachfolger, sah in der staatlichen Zwangsschlichtung ein probates Mittel, den Arbeitnehmeranteil am Volksvermögen zu vergrößern. Als Befürworter staatlichen Einflusses im emanzipatorischen Kampf der Arbeiter hatte er sich bereits in seiner Zeit als Schlichter in Berlin ausgewiesen.

Die "Wissell-Sprüche" waren damals auf den geballten Zorn der Arbeitgeber gestoßen. "Die Industriellen wollten nicht mit mir als Schlichter verhandeln", notierte er nicht ohne Stolz in seinen Memoiren. "Nur ungern ließ ich eine Pause einlegen, die zur Mittagszeit oft verlangt wurde, weil dann die Parteien mit neuen Kräften nur zu oft bereits schon Gesagtes breitzuwalzen geneigt waren." Oft stellte Wissell ein Kästchen Zigarren auf den Tisch und zitierte Wilhelm Busch: "Mit Dampf soll alles besser gehen."

Einmal berichtete ihm sein Sekretär, wie ein Vertreter zum anderen sagte: "Da hat datt Aas" - und damit war ich gemeint - "uns noch 'n Pfennig abgeknöppt. Aber datt is gut, da ham mer wieder Ruhe im Gewerbe."

So glimpflich ging es im Alltag meist jedoch nicht zu. 1928 war Wissell Reichsarbeitsminister geworden. Kraft seines Amtes erklärte er einen Schiedsspruch in der Gruppe Nord-West der Eisen- und Stahlindustrie für verbindlich. Die Unternehmer zogen vor Gericht. Im Januar 1929 erklärten die Leipziger Richter am Reichsarbeitsgericht den "Ein-Mann-Schiedsspruch" für nicht rechtens. Das Urteil läutete die Demontage von Tarifrecht und Schlichtungswesen ein.

Der Brückenbauer

Lange schon hatten die Unternehmer gegen "politische Löhne" gewettert; die ihrer Ansicht nach zu starren und zu hohen Tariflöhne belasteten Produktivität und Investitionen und seien für den Niedergang der Wirtschaft in der Weimarer Republik verantwortlich. Statt "staatlicher Zwangslohnpolitik" forderte der Reichsverband der Deutschen Industrie "individuelle Lohngestaltung".

Die Kampagne verstummte mit dem Dienstantritt des ersten Präsidialkabinetts unter Heinrich Brüning. Regiert wurde nun per Notverordnung: Im Dezember 1931 waren die Tariflöhne auf den Stand von 1927 gesunken; im September 1932 gestand die Regierung den Unternehmern zu, ihre Arbeiter unter Tarif zu entlohnen.

Die Gewerkschaften, in der Weltwirtschaftskrise durch ein nie gekanntes Ausmaß an Arbeitslosigkeit völlig verunsichert, befanden sich auf verlorenem Posten. Ein halbes Jahr später, am 1. Mai 1933, besetzten SA-Truppen die Gewerkschaftsbüros; Wissell und andere Funktionäre wurden verhaftet. Die Gewerkschaftsleitung übernahmen Nationalsozialisten; an der Spitze der "Deutschen Arbeitsfront" stand der vormalige preußische Staatsratspräsident Robert Ley.

Kein einheitliches Schlichtungsverfahren

Nach der Kapitulation im Mai 1945 half Wissell beim Neuaufbau der Gewerkschaften. Für die Berliner Zeitung Das Volk schrieb er im Oktober 1945 in einem Artikel mit dem Titel "Unsere Aufgabe": "Die Alliierten haben vor, uns die Möglichkeit zu geben, unser künftiges Leben auf demokratischer Grundlage vorzubereiten. Sie sehen Einrichtungen der Selbstverwaltung vor, für die wir die Verantwortung zu tragen haben." Ein entsprechendes Gesetz des Alliierten Kontrollrates aus dem Jahre 1946, das in seinen Grundzügen noch heute Gültigkeit hat, setzte erneut auf die eigenverantwortliche Schlichtung beider Tarifpartner.

Anders als in der Weimarer Republik schreibt das bundesdeutsche Gesetz allerdings kein einheitliches Schlichtungsverfahren vor. Häufig werden prominente Politiker als Vermittler angerufen, was nicht mit staatlicher Zwangsschlichtung zu verwechseln ist. Beide Seiten müssen der Person wie ihrem Vermittlungsvorschlag zustimmen. Sonst drohen Streik und Aussperrung. In den meisten Fällen konnte dies vermieden werden.

Tarifrecht und Schlichtungswesen: Welche Berechtigung besitzen die beiden 90 Jahre alten Regelwerke heute? Die Gewerkschaften hatten über Jahrzehnte für ein verbindliches Tarifrecht und ein partnerschaftliches Schlichtungswesen gekämpft. Die Verordnung vom 23. Dezember 1918 bedeutete für sie einen großen Sieg. Das Einkommen der erwerbstätigen Bevölkerung war von konjunkturellen Schwankungen und unternehmerischem Risiko abgekoppelt.

Dieses sozialpolitische Postulat entsprang der Hoffnung auf eine demokratisierte Wirtschaft, in der Eigentum anerkannt und Eigeninitiative belohnt werden, ohne dabei die Bedürfnisse der arbeitenden Menschen aus dem Blick zu verlieren.

Rudolf Wissell erhielt 1954 das Große Bundesverdienstkreuz; am 13. Dezember 1962 starb er, fast 94-jährig, in Berlin.

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