Süddeutsche Zeitung

Streamingdienste:Mit Kochshows und Yoga in den Mainstream

Lesezeit: 3 min

Die Streamingplattform Twitch zieht immer mehr Menschen an. Dabei geht es längst nicht mehr nur ums Spielen.

Von Caspar von Au, München

An einem Dienstagnachmittag Ende April starren 2480 Nutzer auf Twitch auf eine Leuchtschrift. Zwei P rotieren um sich selbst, darunter steht: "Gleich geht's los". Es ist 15.15 Uhr und Kevin Teller, auf der Streamingplattform besser bekannt als "Papaplatte", verspätet sich. Unter dem Video schnellt der Zähler in die Höhe, der die Anzahl der Live-Zuschauer anzeigt. Als Papaplatte, um 15.18 Uhr endlich in die Kamera grinst, schauen mehr als 5 500 Menschen zu.

Teller, 23, Harry-Potter-Brille und verstrubbelte Elvis-Tolle, ist einer der deutschen Stars auf Twitch. Das Livestreaming-Portal, das zu Amazon gehört, ist einer der großen Gewinner der Corona-Krise. Zwar sind die Nutzerzahlen in den vergangenen Jahren ohnehin kontinuierlich gestiegen, ein Blick auf die Statistiken zeigt aber einen sprunghaften Anstieg von Zuschauern, Streamern und Nutzungsdauer Ende März, Anfang April. Einem vor Kurzem veröffentlichten Bericht zufolge hat sich die Zahl der Stunden, die Nutzer auf Twitch pro Monat Livestreams konsumieren, von April 2019 zu April 2020 verdoppelt - auf fast 1,7 Milliarden Stunden.

Davon profitiert natürlich auch Papaplatte. Er steht außerdem noch für einen anderen Trend auf Twitch: In den Livestreams geht es längst nicht mehr nur um Gaming. "Just Chatting" nennt sich die Kategorie, unter der Teller häufig streamt. Dann spielt und kommentiert er keine Computerspiele, sondern unterhält sich mit den Zuschauern über Youtube-Videos, Musik oder seinen Urlaub. Ein Drittel chatten, zwei Drittel Gaming, das sei sein Erfolgsrezept, sagt Teller.

So erzählt er, dass er dieses Jahr noch nicht Snowboarden war. Und dass er frisch planierte Pisten besser findet als Tiefschnee. "Der ist überbewertet." Kaum hat er das gesagt, strömen Hunderte Nachrichten in das Chat-Fenster neben dem Video. "+1" oder "-1" schreiben die Zuschauer, soll heißen, sie stimmen Teller zu oder halten den Kommentar für Quatsch. Mit 9145 Zuschauern ist Papaplatte um 15.33 Uhr der meist gesehene deutschsprachige Kanal auf Twitch. Der Twitch-Chat ist zentral für erfolgreiche Live-Übertragungen. Oder wie Teller es ausdrückt: "Der Chat muss auch performen."

"Wir schaffen ihnen eine Bühne für gemeinsame Momente."

Vor dem Schreibtisch sitzen und mit der Kamera reden ist die einfachste Form der sogenannten IRL-Streams (kurz für "In Real Life"), die Twitch zu bieten hat. Auf anderen Kanälen wird gekocht, Yoga gemacht oder an kleinen Robotern gebastelt. Ein Bauernhof aus dem US-Bundesstaat Utah überträgt rund um die Uhr das Leben seiner Hühner, Schafe und Enten auf der Plattform. Die Zuschauer können die Tiere über den Chat mit Futter versorgen. "Ich schau mir so etwas total gerne an", sagt Teller. "Wenn zum Beispiel ein Landwirt sein Feld pflügt. Da erhalte ich Einblicke in Dinge, die ich noch nicht kenne."

Laut Jannik Hülshoff, zuständig bei Twitch für Partnerschaften in Deutschland, Österreich und der Schweiz, hat sich die Zahl der IRL-Streams in den letzten drei Jahren vervierfacht. Ein Ziel der Plattform sei es, Menschen zusammen zu bringen: "Wir schaffen ihnen eine Bühne für gemeinsame Momente", sagt er. Dass die Plattform von Monat zu Monat wächst, gibt das Unternehmen gerne zu. Konkret zum Anstieg der Zahlen während der Corona-Krise will sich Hülshoff nicht äußern.

Nicht alle Twitch-Streams sind reine Unterhaltung: Wolf-Dieter Geißler, Pfarrer der katholischen Gemeinde St. Peter und Paul aus Bühl in Baden-Württemberg, landete Ende März notgedrungen auf der Plattform. Weil man auf Youtube nicht ohne Weiteres mit dem Handy streamen kann, richtete ihm ein Student einen Twitch-Kanal ein. "Die Rückmeldungen nach den ersten Gottesdiensten waren fantastisch", erzählt Geißler. Knapp 500 Menschen verfolgten die Livestreams auf Twitch. Später übertrug Geißler auch Predigten und Gespräche mit den Erstkommunionkindern. Mittlerweile aber streamt der Pfarrer doch auf Youtube. "Da ist die Bildqualität um einiges besser."

Andreas Heil, Professor für Informatik an der Hochschule Heilbronn, nutzt Twitch derzeit für seine Vorlesungen. Sein Stream ist Teil eines Forschungsprojekts, das Heil unabhängig von der Pandemie durchführt. Gefördert wird das Projekt vom baden-württembergischen Bildungsministerium. "Ich wollte die Lehre dorthin bringen, wo sich viele meiner Studenten ohnehin den ganzen Tag aufhalten", sagt Heil. Er will herausfinden, ob Twitch als Plattform für die Lehre taugt.

"Introvertierte Charaktere blühen komplett auf."

"Ein Vorteil ist", sagt er, "dass die Studenten den Vorlesungen anonym folgen können." Um zuzuschauen, brauche der Hörer keinen Twitch-Account, und selbst mit Profil ist keiner gezwungen, unter seinem Klarnamen teilzunehmen. Das führe dazu, dass ihn über den Twitch-Chat viel mehr Fragen erreichen als in einer Offline-Vorlesung. "Introvertierte Charaktere blühen komplett auf", sagt Heil. "Studenten, die in einer normalen Veranstaltung nicht die Hand heben, obwohl sie eine brennende Frage haben." Allerdings ist der Nutzen der reinen Online-Lehre Heil zufolge beschränkt: "Es fehlt der persönliche Kontakt, der fragende Blick." Für Seminare und andere interaktive Lehrformen eigne sich Twitch daher weniger.

Ironischerweise ist die Entwicklung von Twitch in Richtung einer Plattform für Livestreams aller Art gleichzeitig auch ein Schritt rückwärts in der Unternehmensgeschichte. Im Jahr 2007 unter dem Namen Justin.tv gegründet, war Twitch.tv nur der Ableger für Gamer. Die ursprüngliche Plattform stellten die Entwickler aber 2014 ein, um sich ganz auf das Gaming-Geschäft konzentrieren zu können. Bei Papaplatte geht es um 17.09 Uhr, rund zwei Stunden nach Stream-Beginn, endlich um Computerspiele. Da startet Teller das Spiel "Green Hell". 13 000 Menschen sehen ihm dabei zu.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4917165
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 26.05.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.