Süddeutsche Zeitung

Welthandel:EU-Kommission erwägt brisante Strafzoll-Regelung

  • Weil US-Präsident Trump die Ernennung von Richtern blockiert, droht dem wichtigen Schiedsgericht der Welthandelsorganisation (WTO) die Handlungsunfähigkeit.
  • Bislang wacht es über die Einhaltung der Handelsregeln und verbietet es etwa, Einfuhren aus bestimmten Staaten willkürlich mit höheren Zöllen zu belegen.
  • Die EU-Kommission erwägt nun, Strafzölle auch ohne WTO-Erlaubnis zu ermöglichen, wenn ein Land die Arbeit des Gerichts sabotiert - wie aktuell die USA.

Von Björn Finke, Brüssel

Ujal Singh Bhatia und Thomas R. Graham sind zwei Juristen, von denen nur wenige Fachleute gehört haben dürften. Die beiden sitzen in einem wichtigen Gremium, dem Schiedsgericht der Welthandelsorganisation WTO in Genf. Die Richter sind die letzte Instanz, wenn Staaten einander unfaire Handelspraktiken vorwerfen. Die Juristen können klagenden Regierungen erlauben, als Gegenmaßnahme Strafzölle zu verhängen. Doch dieses Gericht könnte in dreieinhalb Monaten dichtmachen müssen. Denn am 10. Dezember endet die Amtszeit von Bhatia und Graham, übrig bleibt nur die Chinesin Hong Zhao. Mindestens drei Richter sind nötig, um Recht sprechen zu dürfen, aber die Nachfolge wird von den USA blockiert.

Der Welthandel wird von Streit und Strafzöllen belastet, und ausgerechnet in dieser turbulenten Zeit muss das Gericht vermutlich seine Arbeit einstellen. Diese Aussicht alarmiert auch die EU-Kommission, die für die Handelspolitik Europas zuständig ist. Brüssel denkt darüber nach, wie sich die EU in einer Welt ohne WTO-Gericht behaupten kann. Das wird eine der ersten wichtigen Herausforderungen der neuen Kommission sein, die im November antritt - unter der deutschen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

"Die EU muss in der Lage sein, ihre Interessen unter allen Umständen nachdrücklich verteidigen zu können", heißt es dazu in einem internen Dokument der Behörde. Schuld an der Malaise des Gerichts trägt der amerikanische Präsident Donald Trump. In dem Gremium sind sogar sieben Juristen vorgesehen, doch Washington stimmt der Ernennung neuer Richter schon länger nicht mehr zu. Die Regierung begründet diese Sabotage damit, dass das Gericht in der Vergangenheit seine Kompetenzen überdehnt habe. Allerdings ist Trump ohnehin kein Freund der WTO: Ihm missfällt es, wenn Organisationen Urteile über die Aktivitäten der mächtigen USA fällen; er will die Handelsordnung selbst gestalten anstatt sich an international festgelegte Regeln zu halten. Und mit der Blockade des Gerichts schwächt Trump die WTO massiv.

Die EU will das WTO-Handelssystem erhalten: ein System, das etwa verbietet, Einfuhren aus bestimmten Staaten willkürlich mit höheren Zöllen zu belegen. Aber zugleich regt die Kommission an, die eigenen Vorschriften rasch auf eine Zukunft ohne Genfer Gericht vorzubereiten - und die Gangart gegenüber Washington zu verschärfen. Bisher verhängt die EU Strafzölle oder Einfuhrquoten nur in Einklang mit WTO-Regeln und -Urteilen. Nachdem Washington 2018 Zölle auf Stahl- und Aluminiumimporte aus Europa eingeführt hatte, startete Brüssel ein Verfahren bei der WTO und verteuerte schon einmal Mais, Motorräder und andere Produkte aus den USA mit Strafabgaben. Das erlauben die Vorschriften der WTO.

Ist das Genfer Gericht nicht mehr handlungsfähig, sollte die Kommission als Antwort auf ungerechtfertigte Zölle sofort Strafabgaben verhängen - ohne WTO-Prozedere, schreibt die zuständige Generaldirektion Handel in einem internen Dokument: ein schneller Schuss aus der Hüfte im neuen Wilden Westen der Handelspolitik. Das Papier ist eine Ideensammlung, in der alle Abteilungen Vorschläge für das Arbeitsprogramm der neuen Kommission machen. Für die erweiterten Befugnisse der Handelspolitiker müssten die Mitgliedstaaten und das EU-Parlament die Regeln für die Kommission anpassen.

Der Ton wird rauer im weltweiten Handelssystem

In dem Vorschlag heißt es weiter, dass die EU solche Strafzölle ohne WTO-Erlaubnis nur gegen Länder verhängen sollte, welche die Arbeit des Gerichts sabotieren. Das schaffe einen Anreiz für Staaten, sich zusammen mit der EU für eine funktionsfähige WTO einzusetzen. Nur WTO-Gegner könnten dann von den schnellen Strafzöllen getroffen werden - vor allem die USA.

Eine derartige Regelung würde den unberechenbaren Trump zweifellos erzürnen. Der US-Präsident erwägt ohnehin, Sonderzölle auf Autoimporte aus Europa einzuführen, wenn ihm Brüssel im Handelsstreit nicht entgegenkommt. Das würde die deutsche Autobranche stark belasten. Die Fachleute in der Handelsabteilung der Kommission sind sich der Brisanz ihrer Ausführungen bewusst. Sie schließen ihren Vorschlag daher mit der Warnung, bei der Wahl des Zeitpunkts der Veröffentlichung Auswirkungen auf die europäisch-amerikanischen Beziehungen "sorgfältig" zu bedenken.

Eine andere Idee in dem EU-Dokument könnte chinesischen Unternehmen das Leben schwerer machen. Die Handelsexperten beklagen, dass sich Konzerne von außerhalb Europas sehr einfach an Ausschreibungen für Staatsaufträge der EU-Regierungen beteiligen könnten - umgekehrt aber viele Heimatländer dieser Konzerne ausländische Unternehmen von Staatsaufträgen ausschlössen. Zugleich profitierten einige Konzerne außerhalb Europas von Subventionen ihrer Regierungen. Beide Kritikpunkte treffen auf China und die dortigen Unternehmen zu.

Die Generaldirektion Handel schlägt vor, dass zumindest solche Staatsaufträge, die teilweise mit EU-Fördergeld finanziert werden, nur an Firmen aus der EU gehen dürfen - oder an Betriebe aus Ländern, die EU-Firmen bei Ausschreibungen fairen Zugang gewähren. Außerdem solle die Kommission prüfen, ob bei Bieterverfahren Konzerne ausgeschlossen werden können, die in ihren Heimatländern Subventionen erhalten, heißt es. So ein härteres Vorgehen würde auch dabei helfen, bei Gesprächen über Handelsverträge Zugeständnisse von Partnern herauszuholen.

Kein Zweifel: Der Ton wird rauer im weltweiten Handelssystem. Und die EU will auf diese neue Realität vorbereitet sein.

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SZ vom 27.08.2019/vit
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