American Depositary Receipts:Frühe Warnung vor neuem Steuertrick

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Blick auf die Frankfurter Skyline am Abend. (Foto: Frank Rumpenhorst/dpa)

Das Bundesfinanzministerium bekam schon bald nach der Cum-Ex-Masche Hinweise auf weitere Schiebereien. Aber zunächst passierte offenbar nichts. Gingen die Beamten einem wichtigen Verdacht nicht nach?

Von Jan Willmroth

Die erste Mail ging an einen Referatsleiter im Bundeszentralamt für Steuern und an einen weiteren Beamten. Und gleich im ersten Absatz enthielt sie eine unmissverständliche Warnung. Man gehe davon aus, schrieb ein hochrangiger Mitarbeiter der Deutsche-Börse-Tochter Clearstream am 4. Juni 2012, dass es zu Missbrauch kommen könnte bei der Erstattung von Kapitalertragsteuern im Zusammenhang mit sogenannten ADRs. Das steht für American Depositary Receipts; für Aktien, die in Dollar an US-Börsen stellvertretend für ausländische Papiere gehandelt werden. Mit tiefer Kenntnis beschrieb der Clearstream-Experte, wie lückenhaft das Verfahren mit diesen speziellen Wertpapieren sei, und stellte dazu gezielte Fragen. Clearstream spielt eine zentrale Rolle im Aktienhandel; dort fallen viele Erkenntnisse an.

Später nahm derselbe Clearstream-Mitarbeiter nach Informationen von Süddeutscher Zeitung und WDR dann direkt Kontakt auf mit leitenden Beamten im Bundesfinanzministerium, dem das Bundeszentralamt (BZSt) direkt untersteht. Es gebe die Möglichkeit eines Missbrauchs und man habe keinen Kontrollmechanismus, schrieb er in einer weiteren Mail, die ein gutes halbes Jahr später an Fachleute im Ministerium ging. Das liest sich so, als ob damals ein neuer Steuerskandal nach Cum-Ex drohte. Gleich nachdem die Bundesregierung im Jahr 2012 nach vielen Jahren und Schäden in Milliardenhöhe den Griff in die Staatskasse beim Handel von Aktien mit (Cum) und ohne (Ex) Dividende endlich gestoppt hatte.

Aber die Warnungen vor einem neuen Missbrauch, nun mit ADR-Papieren, fruchteten offenbar nicht. Erst fast sechs Jahre später brach im Bundesfinanzministerium (BMF) große Unruhe aus. Weitere, ganz konkrete Hinweise auf ADR waren aufgekommen, als das Ministerium im Herbst 2018 ein elektronisches Verfahren zur Steuererstattung für diese Papiere stoppte. Dem vorausgegangen waren damals Recherchen von SZ und WDR, wonach Ermittler erste Erkenntnisse hatten über eine Methode, die noch perfider zu sein schien als Cum-Ex: ein Griff in die Staatskasse mit Phantom-Aktien. Die Recherchen wiesen auf einen "ernsten Vorgang" hin, erklärte das Finanzministerium im November 2018 und gründete mit dem BZSt und der Finanzaufsichtsbehörde Bafin eine Arbeitsgruppe. Sechs Jahre zu spät?

Die Clearstream-Mails von 2012 erwecken den Eindruck, als habe das seit 2018 von Olaf Scholz (SPD) und zuvor von Wolfgang Schäuble (CDU) geleitete Finanzministerium Jahre gebraucht, um neue Schlupflöcher beim Aktienhandel zu schließen. Das Ministerium entgegnet, man gehe allen eingehenden Hinweisen auf die "Gefahr von Steuergestaltung oder Steuerhinterziehung" selbstverständlich nach. Die Korrespondenz von 2012 lasse nicht den Schluss auf Geschäfte zu, bei denen der Fiskus eine nur einmal gezahlte Steuer doppelt erstattet habe, erklärte das Finanzministerium auf Anfrage. Man habe 2013 "entsprechende Hinweise gewürdigt und, so erforderlich, auch aufgegriffen".

Die doppelte Steuererstattung: Das war ja der Trick gewesen beim Handel von Aktien mit (Cum) und ohne (Ex) Dividende. Banken und Börsenhändler hatten Finanzämter getäuscht und sich so am Fiskus bereichert. Bei den sogenannten ADRs geht es aber auch um eine neue Spielart. Es geht im Extremfall um die einmalige Erstattung überhaupt nicht gezahlter Steuern. Mit Phantom-Aktien; also mit Papieren, die es ebenfalls gar nicht gab. Alles kompliziert und im Detail kaum nachvollziehbar. Je strenger die Gesetze werden, desto ausgefeilter werden die Methoden, mit denen Banker, Händler und Anwälte den Fiskus austricksen oder gar hereinlegen wollen.

Auch bei den ADR-Papieren besteht der Verdacht, dass kriminell agiert wurde. Entsprechende Hinweise verfolgt die Kölner Staatsanwaltschaft, die im Zusammenhang mit Cum-Ex inzwischen gegen etwa 600 Beschuldigte ermittelt (siehe Infokasten). Den ADR-Papieren liegt zumeist je eine echte Aktie zugrunde, die eine Bank anderswo verwahrt. Solche Papiere erleichtern es Dollar-Investoren, Aktien aus anderen Währungsräumen zu kaufen. Sie erleichtern es aber auch, nur so zu tun, als habe man eine Aktie, auf die man Dividenden erhält. Auf diese Weise soll es in den vergangenen Jahren möglich gewesen sein, Steuererstattungen zu kassieren, die den jeweiligen Banken und Kapitalanlagefonds überhaupt nicht zustanden.

Mehr noch: Denkbar waren sogar Fälle, in denen Steuern auf Aktien erstattet wurden, obwohl die betreffenden Papiere gar nicht existierten. Diese Methoden haben zwei Cum-Ex-Insider im Gespräch mit SZ und WDR als neue Art der Cum-Ex-Steuerdeals beschrieben und bestätigt, dass sie noch bis in jüngere Zeit praktiziert worden sei. Einer der beiden spricht von einer "Weiterentwicklung der Teufelsmaschine Cum-Ex". Dahinter steckt ein Fehler im System: Im Rahmen eines digitalen Erstattungsverfahrens mussten Banken unter bestimmten Umständen weder nachweisen, dass es die Aktien zu den ADRs auch tatsächlich gab. Noch mussten sie immer eine Bescheinigung über eine gezahlte Steuer als Basis für deren Erstattung einreichen.

Während Ermittler den neuen Verdachtsmomenten nachgehen, ist das Ausmaß der Masche mit Phantomaktien noch unklar. Sechs Fälle, in denen die Deutsche Bank zwischen 2010 und 2012 zu Unrecht Steuern in Höhe von 1,5 Millionen Euro kassierte, sind dokumentiert. Die Deutsche Bank, die das selbst untersuchte, stieß auf missbrauchsanfällige ADR-Geschäfte bis 2014 im Umfang von 105 Millionen Euro. 25 Millionen Euro davon sollen als Steuer erstattet worden sein. Das heißt aber nicht, dass es da nicht noch viel mehr geben könnte. Bei Cum-Ex haben die Ermittler Jahre gebraucht, um Geschäfte zu Lasten der Staatskasse halbwegs zu durchleuchten.

Auch bei ADR sieht es so aus, als sei wertvolle Zeit verstrichen. Der Clearstream-Experte hatte schließlich früh und eindringlich gewarnt. Einige Banken würden Bescheinigungen über angeblich gezahlte Steuern gleich auf ganze ADR-Bestände ausstellen. Viele einzelne Steuer-Rückforderungen wären dann zu großen Paketen geschnürt und an den Fiskus geschickt worden. Ob das so korrekt sei? Für das Bundeszentralamt für Steuern ist es in solchen Fällen deutlich schwerer, nachzuvollziehen, ob tatsächlich in jedem Einzelfall zuvor Steuern abgeführt wurden.

Ein Beamter des zuständigen Referates IV C 1 im Bundesfinanzministerium blieb damals in seiner Antwort auf diese Hinweise teilweise vage. Auslandsbanken, so der Beamte, mussten tatsächlich keine Steuerbescheinigung vorlegen, um Erstattungen zu erhalten - es genügten in begründeten Ausnahmefällen sogenannte Gutschriftenanzeigen. Zu einem in der Anfrage ganz konkret aufgeworfenen ADR-Modell hieß es seitens des Ministeriums, man rege zu diesem Thema eine Abstimmung zwischen Clearstream und der Deutschen Kreditwirtschaft an.

So ähnlich war das auch bei Cum-Ex gelaufen: Regierung und Behörden berieten erst einmal mit Banken, mit deren Verbänden und anderen Organisationen, was zu tun sei, statt konsequent durchzugreifen. Und lange Zeit wurde das Problem heruntergespielt. Wiederholt sich das bei ADR? Nach der ersten öffentlichen Aufregung im Herbst 2018 über einen möglichen Missbrauch auch hier folgte eine rasche Ansage des Finanzministeriums: Man habe sich dem "Kampf gegen Steuerbetrug" verschrieben. "Wer sich auf Kosten der Allgemeinheit bereichern will, muss mit empfindlichen Strafen rechnen."

Seitdem ist es wieder ruhig geworden. Das Ministerium beharrte zuletzt stets darauf, es seien "keine konkreten Einzelfälle bekannt", in denen mit Bezug auf ADRs beziehungsweise ähnliche Papiere eine "ungerechtfertigte Rückerstattung deutscher Kapitalertragssteuer" erfolgt sei. Andererseits hat die US-Börsenaufsicht SEC intensiv wegen Verstößen im Umgang mit ADRs ermittelt. Inzwischen haben 14 Banken 431 Millionen Dollar gezahlt, darunter die Deutsche Bank für zwei US-Töchter. Das klingt nicht nach nichts.

© SZ vom 29.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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