Süddeutsche Zeitung

Steuerschätzung:Bundesregierung muss nun klug investieren

Die neue Normalität bedeutet, dass der Staat in diesem Jahr wahrscheinlich rund 100 Milliarden Euro weniger Steuern einnehmen wird. Jetzt braucht Finanzminister Scholz einen guten Plan.

Kommentar von Cerstin Gammelin

Die von Bundesfinanzminister Olaf Scholz ausgerufene neue Normalität hat die deutschen Staatsfinanzen erreicht. Bund, Länder und Gemeinden müssen sich darauf gefasst machen, dass sie in diesem Jahr wahrscheinlich rund 100 Milliarden Euro weniger Steuern einnehmen werden. Das ist ein historischer Einbruch. Die noch tristere Nachricht aber ist, dass die neue Normalität andauern wird. Frühestens 2022 soll das Steuerniveau des Jahres 2019 erreicht werden. Die Zeit des Wünsch-dir-was aus der Staatskasse ist endgültig vorbei. Jetzt müssen Prioritäten gesetzt werden.

Die wegbrechenden Steuereinnahmen zeigen unübersehbar, dass es einfacher war, das Land ins künstliche Koma zu versetzen, als es wieder ins Leben zurückzuholen. Dauert es zu lange, besteht die Gefahr langfristiger Schädigungen. Steigt die Zahl der Insolvenzen weiter, steigt auch die der Arbeitslosen. Sinken die Einnahmen an Gewerbesteuern weiter, stellen Kommunen ihre Investitionen zurück. Schulen werden nicht renoviert und nicht digitalisiert. Kinder aus benachteiligten Familien verlieren den Anschluss. Müssen immer mehr Bürger mit weniger Einnahmen rechnen oder um den Job fürchten, bricht der Konsum ein. Es besteht die Gefahr einer Kettenreaktion ohne absehbares Ende.

Erfreulich ist, dass sich die Koalition einig ist, dass es eine solche Kettenreaktion nicht geben darf. Und auch, dass Deutschland finanziell so potent und kreditwürdig ist, dass es am Geld jedenfalls nicht scheitern wird. Union und SPD sind bereit, die nötigen Kredite aufzunehmen, obwohl dadurch die Schulden kräftig steigen. Das ist richtig. Die entscheidende Frage allerdings ist, ob die große Koalition die Kraft findet, die Krise als Chance zu begreifen und mit den Milliarden nicht einfach alte Strukturen zementiert, sondern das Land und die Unternehmen fit macht für die Zeit mit und nach Corona. Es wäre falsch, hier ein bisschen die Steuern zu senken, dort die Umweltauflagen zu lockern oder Sozialleistungen zu streichen. Die neue Welt muss anders aussehen.

Es ist ja auch unstrittig, dass das Virus die Welt verändert hat. Es hat schonungslos aufgezeigt, wie verletzbar alle sind. Ängste haben einen kräftigen Schub bekommen, viel Lebensfreude ist verloren gegangen. Unternehmen wissen jetzt, wie fragil global vernetzte Lieferketten sind und wie es ist, wenn Exportmärkte geschlossen sind. Private und gesellschaftliche Freiheiten erschienen grenzenlos, an die Konsequenzen wurde kaum gedacht. Die Lehre aus diesem Versäumnis kann nur lauten, dass die Welt endlich nachhaltigere Produkte, Herstellungsverfahren und Lebensweisen braucht. Und eben Zuversicht und Planungssicherheit, für Bürger wie Unternehmer.

Die Regierung braucht einen Plan für alle Fälle. Und die Bürger Zuversicht

Es war ein gutes Signal, das Arbeitslosen- und das Kurzarbeitergeld großzügig auszulegen. Und auch, die Grundsicherung vielen Bedürftigen schnell zugängig zu machen. Jetzt aber kommt es darauf an, dafür zu sorgen, dass die Menschen auf diese Hilfen schnell verzichten können und wieder Jobs finden. Die Koalition muss gezielt die Binnenkonjunktur stützten, Arbeitsplätze im Dienstleistungsgewerbe mit Zuschüssen fördern und auch in mittelständischen Betrieben. Gut investiert sind die neuen Schulden auch in der Bildung. Schulen, Universitäten und Ausbildungsstätten müssen modernisiert werden. Es wäre fatal, müssten lange geplante Projekte wegen wegbrechender Steuereinnahmen verschoben werden.

Als Exportweltmeister wird Deutschland unter zwei Bedingungen überleben. Erstens: Man muss sich heute überlegen, was morgen gebraucht wird. Moderne Autos, moderne Maschinen, Medizintechnik und chemische Produkte. Und, zweitens, man muss dafür sorgen, dass die Exportmärkte erhalten bleiben. Die Hälfte der deutschen Exporte gehen ins europäische Ausland. Das kann nur so bleiben, wenn die Nachbarn gut aus der Krise kommen. Und der europäische Binnenmarkt funktioniert - ohne neue Grenzen. Dafür mit abgestimmten Maßnahmen gegen die Corona-Krise und mit fairen Wettbewerbsbedingungen. Der europäische Binnenmarkt war noch nie so sehr in Gefahr wie in der Corona-Krise, in der nationales Denken so alle Gemeinsamkeiten überdeckt.

Ob der Staat dies alles leisten kann, hängt freilich davon ab, wie es gelingt, die Ausbreitung des Virus zu bremsen. Und die Wahrheit ist, dass das Virus Mitte Mai noch genauso existiert wie Mitte März. Deshalb gilt: Noch nie war die Kalkulation der Staatsfinanzen so unsicher wie jetzt in der Corona-Zeit. Panik wäre trotzdem falsch. Die Regierung braucht einen Plan für alle Fälle. Und die Bürger Zuversicht.

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SZ vom 14.05.2020/hgn
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