Finanzen:Der Steuerbescheid bringt keine Gerechtigkeit

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(Foto: istock/Getty Images/Collage: SZ)

Egal ob Klimaschutz, Wohnungsbau oder Familienpolitik: Um etwas positiv zu verändern, bedient sich der Staat meist des Steuerrechts. Doch damit fangen die Probleme erst an. Zeit für eine ehrliche Debatte.

Essay von Stephan Radomsky

Wer Schach spielt, gilt als Sportler. Nicht weil Mediziner die segensreichen Effekte des Schachspiels auf den Körper nachgewiesen hätten oder ein Großmeister beim Doping erwischt worden wäre. Sondern weil es das deutsche Steuerrecht so festlegt, nachzulesen in der Abgabenordnung, Paragraf 52, Absatz zwei, Satz 21.

Was nach einem Insiderwitz für Steuerberater klingt oder Smalltalk-Wissen für die nächste Party, ist nur ein kleines Symptom eines sehr großen, sehr deutschen Problems: Egal ob Umwelt- und Klimaschutz, Wohnungsbau, gesellschaftliches Engagement oder Familienpolitik – wenn der Staat Gerechtigkeit herstellen oder seine Bürger zum einen bewegen und vom anderen fernhalten will, bedient er sich meist des Steuerrechts. Dann gibt es einen Steuerbonus. Und damit fangen die Probleme an.

Denn so ist über die vergangenen Jahrzehnte hinweg ein wahrer Dschungel an Ausnahme- und Sonderregelungen gewuchert, die sich oft auch noch widersprechen. Das Ergebnis: Irgendwie wird alles gefördert, aber nichts so richtig. Der Staat verzichtet auf Milliarden Euro an Einnahmen und legt anderer Stelle Milliarden drauf, die er eigentlich nicht hat – und die erhoffte Lenkungswirkung verpufft.

Beispiel gefällig? Dienstwagen mit Verbrennermotor etwa fördert der Staat durch die pauschale Ein-Prozent-Regel, wonach Arbeitnehmer den geldwerten Vorteil eines Firmenautos mit nur einem Prozent des Listenpreises pro Monat versteuern müssen. Das ist für viele Angestellte ziemlich attraktiv, weshalb sie gern einen Dienstwagen nehmen – den Staat kostet es je nach Schätzung irgendetwas zwischen gut drei und knapp 14 Milliarden Euro, ganz genau kann es niemand sagen. In jedem Fall aber: viel Geld.

Weil das Land aber bis zum Jahr 2045 klimaneutral sein muss, fiel irgendwann auf, dass diese Förderung nicht zum Ziel führt. Die Konsequenz war dann allerdings nicht, die vorteilhafte Regelung für Benziner und Diesel zu streichen – sondern für die teureren Hybriden und Elektroautos einen neuen, noch höheren Bonus einzuführen. Der gewünschte Effekt blieb trotzdem aus: Zuletzt war der Anteil der E-Autos bei den Firmenwagen nach Angaben des Kraftfahrt-Bundesamts sogar wieder rückläufig.

Im Kern ist das deutsche Steuerrecht mehr als 100 Jahre alt

So ließen sich die Beispiele aus allen Politikbereichen durchdeklinieren: Sollen Kinder zu Hause von der Mutter betreut werden, oder sollen Familien ein möglichst großes Angebot an Betreuungsmöglichkeiten erhalten? Sollen Menschen beim Erwerb einer eigenen Immobilie unterstützt werden, oder sind doch eher möglichst viele, möglichst günstige Mietwohnungen das Ziel? Ist überhaupt der Neubau wichtiger oder doch die Sanierung der Bestände? Sollen Landwirte möglichst viele billige Lebensmittel auf den Markt werfen, oder sollen sie vor allem Umweltschützer und Landschaftspfleger auf Traktoren sein? Und ist ein Schach-Klub auch dann noch ein Sportverein, wenn er sich an einer Demo gegen rechts beteiligt? Die staatliche Antwort darauf ist stets ein entschiedenes: „Sowohl als auch – es kommt eben darauf an!“

Um das deutsche Steuerrecht zu verstehen, lohnt es sich, auf seine Anfänge zurückzuschauen. Denn die Regeln, nach denen der Staat hierzulande das Geld einnimmt, sind in ihren Grundzügen mehr als ein Jahrhundert alt: In der unruhigen Zeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg gestaltete der damalige Finanzminister Matthias Erzberger von der Zentrumspartei die Finanzen radikal neu. Das Steuersystem wurde modernisiert und zentralisiert, die Finanzverwaltung neu organisiert und die Grundlage für den noch heute gültigen Finanzföderalismus zwischen der Zentralregierung und den Ländern gelegt. Und nicht zuletzt stieg die Steuerlast gemessen am Bruttoinlandsprodukt drastisch an.

„Seitdem hat sich das Steuersystem evolutionär weiterentwickelt“, schrieb der Ökonom und Steuerexperte Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) anlässlich des 100. Jahrestags der Erzberger-Reform. Sogar die Steuerquote ist, gemessen an der Wirtschaftsleistung, seit vielen Jahrzehnten ziemlich konstant. Dabei sind zwischenzeitlich ein weiterer Weltkrieg, die deutsche Teilung und Wiedervereinigung, die europäische Integration, Wirtschaftskrisen und die Globalisierung übers Land gegangen. Ereignisse, die niemand vorhersehen konnte – und die natürlich immer wieder größere und kleinere Korrekturen auch im Steuerrecht erforderten.

Die vielen Regeln stiften Verwirrung und fördern Ungerechtigkeit

Und meist bedeutet das bis heute: Es kommt jedes Mal noch etwas dazu, aber nur sehr selten etwas weg. Vor allem dann, wenn es um Vergünstigungen und Erleichterungen geht. Menschlich mag das nachvollziehbar sein. Welcher Politiker möchten schon einem Teil seiner (potenziellen) Wähler etwas wegnehmen? Nach der Wahl ist immer auch vor der Wahl. Und niemand, ob die Angestellte im Dienstwagen oder der Bauer auf dem Traktor, lässt sich eine einmal gewährte Wohltat gern wieder streichen.

Im Ergebnis aber führt das zu enormen Ungerechtigkeiten. Denn zumindest daran, dass der Staat Geld braucht, hat sich seit Erzbergers Zeiten ja nichts geändert. Doch im wuchernden Dickicht aus überlieferten und widersprüchlichen Steuerregeln verliert selbst der Fiskus den Überblick, wie der damalige Präsident des Bundesrechnungshofs, Dieter Engels, bereits 2006 festhielt. „Ein Großteil der Steuererklärungen“ werde „in den Finanzämtern nicht mehr ordnungsgemäß geprüft“, mahnte er. Der Grund: „Die komplizierte und ständig geänderte Steuergesetzgebung“ überfordere die Mitarbeiter.

Wenn gefühlt alles irgendwie steuerlich gefördert wird, untergräbt das also nicht nur die Lenkungswirkung, die sich der Staat eigentlich von den Steuergesetzen erhofft. Sie werden obendrein auch noch ungerecht. Wer sich auskennt – oder sich findige Steuer- und Rechtsberater leisten kann –, vermag die Regeln bisweilen übers Maß dehnen, ohne dass es auffällt. Die Cum-Ex-Verbrechen und die Cum-Cum-Steuertricks, mit denen über Jahre hinweg Steuervorteile erschlichen wurden, sind dafür nur das jüngste und krasseste Beispiel. Wer dagegen schlecht Deutsch spricht oder sich schwertut in der Auseinandersetzung mit Behörden, wird wahrscheinlich bares Geld verschenken.

Und zu diesen Übervorteilten gehören Millionen Menschen im Land. So gab es in Deutschland im Jahr 2020 rund 25,8 Millionen unbeschränkt Steuer­pflichtige, die nur Ein­nahmen aus nicht­ selbständiger Arbeit und eventuell Kapital­einkünfte hatten. Aber nur 14,9 Millionen davon gaben eine Einkommensteuererklärung ab. Heißt im Umkehrschluss: Mehr als zehn Millionen Menschen taten das nicht – dabei bringt jede Steuererklärung im Schnitt etwas mehr als 1000 Euro an Rückzahlung vom Finanzamt ein, wie das Statistische Bundesamt ermittelt hat. Auch dass Bürger nachzahlen mussten, kam demnach sehr viel seltener vor als eine Überweisung vom Fiskus.

Gesetze sollten möglichst für alle gleichermaßen gelten

Der Staat nimmt sich also jedes Jahr vom Einkommen von Millionen Bürgern mehr, als ihm nach seinen eigenen Regeln zusteht. Und das wohl oft ausgerechnet von denjenigen, die es sich am wenigsten leisten können: von Menschen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen und tendenziell schlechter bezahlten Jobs zum Beispiel, die ihre Rechte nicht kennen. Oder von Alleinerziehenden, denen Kraft und Zeit für eine Steuererklärung und das Geld für einen Steuerberater fehlen.

Das ist nicht nur ungerecht, sondern auch kurzsichtig. Denn zu denjenigen, die deshalb mit dem deutschen Fiskus hadern, gehören auch hoch qualifizierte Arbeitnehmer aus dem Ausland, die ja eigentlich dringend gebraucht werden. Doch statt das komplizierte System aus Arbeitnehmer-Pauschbetrag, Ehegattensplitting, Pendlerpauschale und Absetzbarkeit von Handwerkerrechnungen zu lichten, kommt von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), genau, der Vorschlag für eine weitere Sonderregelung: ein zeitlich befristeter Rabatt auf die Einkommensteuer.

Die Reaktionen auf die Idee fielen vernichtend aus, nicht nur von der politischen Konkurrenz, sondern auch vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) – allerdings aus den falschen Gründen: Bemängelt wurde vor allem, dass so ein Rabatt ungerecht sei gegenüber den Einheimischen. Dabei liegt gerade darin das vielleicht größte Problem: dass der deutsche Gesetzgeber stets versucht, per Steuerbescheid Gerechtigkeit herzustellen. Für jeden und alles. Für Familien und Unternehmer, Erben und Autofahrer, Sportvereine und Home-Office-Arbeiter. Der Gedanke scheint außer Kraft gesetzt, dass Gesetze möglichst für alle gelten und Ausnahmen, nun ja, die Ausnahme sein sollten.

Dass Bund, Länder und Kommunen Geld brauchen, um ihre Aufgaben zu erfüllen, steht außer Frage. Auch der Grundgedanke, dass die Starken dabei mehr beitragen sollen und die Schwachen unterstützt werden, ist richtig. Um dafür Verständnis und Bereitschaft zu schaffen, sind aber Regeln nötig, die sich auch ohne Steuerberater-Examen durchblicken lassen.

Für mehr Gerechtigkeit braucht es deshalb nicht mehr Ausnahmen, sondern weniger. Und im Gegenzug gezielte Zuschüsse vom Staat, abgestimmt auf den jeweiligen Bedarf und die politischen Ziele. Soll der Verkehr der Zukunft möglichst weitgehend von Bus und Bahn, E-Autos oder Verbrennern getragen werden? Soll der Staat mit seinen begrenzten Mitteln die Kinderbetreuung in der Kita oder daheim in der Familie fördern? Sollen im Land möglichst viele Mietwohnungen oder doch Einfamilienhäuser gebaut werden? Sollen Umwelt- und Klimaschutz im Zweifel Vorrang haben oder die Wirtschaft? Diese und unzählige weitere Fragen können und müssen diskutiert werden, für jeden Standpunkt gibt es Argumente. Dann aber muss es auch mal verbindliche Antworten geben. „Sowohl als auch!“ ist keine.

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