Steuern in Griechenland:Griechenland jagt seine Steuerhinterzieher

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Straßenszene in Athen (Foto: Bloomberg)

Die Stimmung hat sich gedreht: In Griechenland greifen Steuerfahnder jetzt durch. Nachts ziehen sie los. Geschäftsleute haben Angst.

Von Mike Szymanski, Athen

Nachts wird Athen schön. Die Dunkelheit schluckt die Spuren der Krise. Sie lässt die Not in finsteren Hauseingängen unsichtbar werden. Dort legen sich die Obdachlosen zur Ruhe. Fassaden, tagsüber schäbig, werden im Licht der Laternen zu hübschen Kulissen. Nachts ist Athen die halbe Wahrheit.

Efrosini und Nikos könnten auf den ersten Blick als ein interessantes Liebespaar durchgehen. Sie ist eine Erscheinung. Groß, blond. Die Lippen und Nägel: rosa angemalt. Sie ist 50 geworden. Aber das zeigt sie nicht. Nikos, ihr Partner, ist jünger, Mitte 30. Er trägt Jeans, schwarzes T-Shirt und Turnschuhe. Sie gehen im Strom der Nachtschwärmer unter. Wenn man genau hinschaut, fällt auf: Sie halten immer ein bisschen zu viel Abstand.

Ein kühler Wind bläst die Schwere des Tages aus den engen Gassen. Efrosini und Nikos haben kein Ziel. Die Nacht hat gerade angefangen. Sie wird kein Vergnügen. Deshalb darf man auch nur ihre Vornamen schreiben. Die beiden sind auf der Jagd. Das bekommt gleich der tätowierte Mann zu spüren, links vor ihnen. Er steht vor seiner Bar und lockt Kunden. Efrosini und Nikos schauen sich kurz an. Warum nicht? Als sie durch die Tür schreiten, weicht das Lächeln aus Efrosinis Gesicht. Für sie beginnt jetzt die Arbeit. Sie muss sich konzentrieren. Sie tippt dem Kellner auf die Schulter und flüstert ihm ins Ohr. Der Mann lächelt jetzt auch nicht mehr. Die Steuerprüfer sind da.

Griechenland ist das Land, von dem es in Europa heißt, mit Geld könnten die Menschen nicht umgehen. Mehr als 300 Milliarden Euro Schulden hat der Staat angehäuft. Vor einem Jahr hat die Europäische Union das Land wieder einmal vor dem Bankrott gerettet. Diesmal mit 86 Milliarden Euro bis 2018. Schätzungen zufolge entgehen dem griechischen Staat im Jahr zwischen elf und 16 Milliarden Euro allein durch Steuerhinterziehung. Das entspricht einem Drittel der jährlichen Steuereinnahmen. Oder, wenn man in Leid rechnen möchte: Zwei bis drei der schmerzhaften Sparpakete, die die Regierung vor der Sommerpause umgesetzt hat. Wer einen Abend mit Efrosini und Nikos unterwegs ist, lernt, dass es komplizierter ist. Erkundungen in einer Grauzone zwischen Selbstverteidigung und Selbstbetrug.

Als der Linkspolitiker und Anti-Sparer Alexis Tsipras im Januar 2015 in Griechenland an die Macht kam, versprach er: "Wir sind die Ersten, die Steuerflucht und Steuerhinterziehung in großem Stil stoppen wollen." Das hatte man schon oft gehört. Aber jetzt tut sich tatsächlich etwas. In Griechenland ist jede Wirtschaft auch eine Zettelwirtschaft: Die Bedienungen müssen die Kassenzettel mit den Getränken und mit dem Essen an die Tische bringen. Ein komplett gedeckter Tisch umfasst nicht nur Teller, Besteck und Aschenbecher, sondern in der Regel auch ein unscheinbares Döschen für Rechnungen. Wer wissen will, ob jemand bei der Steuer sich die 24 Prozent Mehrwertsteuer schenkt, der muss die Tische inspizieren. Nikos ist schon unterwegs. Als er zurückkommt, sagt er: "Hier stimmt etwas nicht."

Er hat Rechnungen gefunden, ausgestellt am Nachmittag, 14.53 Uhr. Aber so lange, sagen die Gäste am Tisch, waren sie gar nicht hier. In zwei anderen Fällen muss ein Kollege des Kellners noch Rechnungen ausgestellt haben, nachdem die Prüfung begonnen hat. Noch zwei Verstöße. Der Kellner tippt hektisch in sein Handy. Er muss den Chef erreichen. Ob er die Unregelmäßigkeiten erklären könne? "Tut mir leid", sagt er. Könne er nicht. Alle paar Wochen kämen Kontrolleure, sagt er. Und dass er es langsam satthabe. 250 Euro Strafe muss der Wirt zahlen.

Darauf haben viele in Europa lange gewartet

Das ist die neue Härte, die die Fahnder an den Tag legen. Lange hat man in Europa darauf gewartet, dass die Griechen die Steuerhinterziehung ernsthaft bekämpfen. Bis zuletzt herrschte der Eindruck vor: Die wollen gar nicht, selbst wenn man ihnen die Namen von Steuerhinterziehern auf dem Tablett präsentiert.

2010 hatten die Griechen von der damaligen französischen Finanzministerin Christine Lagarde Kontodaten von mehr als 2000 griechischen Kunden der britischen Großbank HSBC erhalten. Die Liste verschwand zwischenzeitlich und als sie wieder auftauchte, fehlten Namen. Die Lagarde-Liste, die berühmteste von mittlerweile vier Listen mit konkreten Verdachtsfällen, ist zum Symbol für den mangelnden Fahndungseifer geworden, wenn es um reiche Griechen geht. Auch sechs Jahre später ist sie noch nicht abgearbeitet. Etwa eine Milliarde Euro haben die Fahnder als Steuerschulden ermittelt, gerade einmal 110 Millionen Euro haben sie eingetrieben. Vor Gericht ziehen sich die Prozesse hin.

Auch Efrosini hat eine Zeit lang an der Lagarde-Liste gearbeitet. Aber jetzt ist sie im Außendienst. Jetzt sind die Kleinen dran. Das ist die Politik von Giorgos Pitsilis. Der 41-Jährige ist Generalsekretär für öffentliche Einnahmen. Pitsilis hat eine Botschaft für jene im Land, die meinen, sie könnten weitermachen wie früher: Fürchtet euch! Jeden Tag schwärmen 350 Prüfer aus. Pitsilis will 30 000 Kontrollen bis zum Ende der Tourismussaison schaffen.

Pitsilis hat sein Büro ganz oben im Nebengebäude des Finanzministeriums, am Rande des Syntagma-Platzes. Wenn er vom Balkon aus nach links schaut, sieht er das prächtige Parlamentsgebäude. Wenn er nach rechts guckt, blickt er auf die Akropolis. Er ist oft hier draußen, weil er eine große Schwäche hat: Zigaretten. Über Griechenland sagt man, Steuerhinterziehung sei ein Problem weniger Reicher. Das stimmte in dieser Einfachheit nie. Bei den Reichen war es nur besonders empörend, wenn sie ihre Millionen auf Nummernkonten ins Ausland schafften. In Griechenland hat sich eine Kultur des Steuerhinterziehens entwickelt.

Der Mann weiß, wie Steuerhinterzieher ticken

In den Anfangsjahren der Krise sah es so aus: Von den knapp sechs Millionen Bürgern, die 2011 eine Steuererklärung machten, gab die Hälfte Jahreseinkünfte von weniger als 12 000 Euro an. Ihr Anteil am Steueraufkommen lag bei nur einem Prozent. Das geht aus einer Studie der Denkfabrik Dianeosis hervor. Dagegen hätten 400 000 Steuerzahler - zumeist Mittelschichtler, aber auch Reiche und Superreiche - fast 70 Prozent der Steuerlast getragen.

Pitsilis weiß, wie Steuerhinterzieher ticken, er versteht, was passiert, wenn sich Selbstgerechtigkeit und Gier mischen. Bevor er vor acht Monaten Einnahmen-Generalsekretär wurde, stand er auf der anderen Seite des Systems. Er war Partner einer Steuerkanzlei.

Jetzt hat er 13 000 Männer und Frauen - den Zoll eingerechnet - unter sich. Er will aufräumen. Er bräuchte 3000 Leute mehr. Aber der Staat muss sparen.

Die griechische Wirtschaft ist eine von ganz wenigen großen Firmen und ganz vielen sehr kleinen. Im Vergleich zum Durchschnitt in der EU hat Griechenland einen doppelt so hohen Anteil an Selbständigen. Dass Angestellte ihr Gehalt vom Chef bar ausbezahlt bekommen, ist nichts Ungewöhnliches. Das Firmenkapital ist oft das, was der Chef im Portemonnaie hat. Das macht Griechenland anfällig für Steuerhinterziehung und Schattenwirtschaft. Und die sind in Griechenland viel stärker ausgeprägt als in anderen EU-Ländern. Bis zu 40 Milliarden Euro sollen Schätzungen zufolge 2015 schwarz umgesetzt worden sein. Der Mehrwertsteuersatz liegt jetzt bei 24 Prozent. Im Zuge der Krise wurde er immer wieder erhöht, Ausnahmen wurden nach und nach abgeschafft. Tabak, Alkohol Heizöl und Internet - alles ist teurer geworden.

Die Rente ist elf Mal gekürzt worden

Auf der anderen Seite schrumpfen die Einkünfte der Leute. Die Arbeitslosenquote liegt bei knapp 24 Prozent. Die Rente ist elf Mal in Folge gekürzt worden. Wenn heute Jobs entstehen, dann auf Mini-Lohn-Niveau von 400 Euro, weit unter dem Mindestlohn. Die konservative Zeitung Kathimerini brachte kürzlich einen Kommentar mit der Überschrift: "Der Realität ins Auge sehen". Die Realität sei nun einmal, dass Griechenland den "Nullpunkt" erreicht habe. Nichts mehr zu holen.

Die Regierung hatte im Herbst die damalige Mindeststrafe für nicht ausgestellte Rechnungen von 500 Euro abgeschafft. Dies führte prompt dazu, dass die Fälle von Steuerbetrug rasant zunahmen. "Die Inhaber der Läden haben unsere Kontrolleure nicht mehr erstgenommen", erzählt Pitsilis. Er wühlte sich durch die Gesetze, bis er zu wissen glaubte, was zu tun ist. Für 48 Stunden können Kontrolleure in schwereren Fällen Geschäfte von einem auf den anderen Tag dichtmachen. Das hatte sich vorher niemand getraut.

Die ersten Geschäfte mussten Anfang August schließen. Ein Spirituosengeschäft in Athen und eine Fischtaverne in Thessaloniki. Auf Rhodos wollten die Türsteher eines Tanzclubs die Steuerfahnder nicht reinlassen. "Haut ab." Half nichts. Die Party war vorbei.

In Trapeza, einem Küstendorf auf dem Peloponnes, waren Steuerprüfer neulich als Badegäste getarnt. Sie jagten am Strand sogar den Rechnungen hinterher, die der Wind von den Tischen geblasen hatte. In 40 Fällen hätten seine Prüfer in diesem Jahr Geschäfte dichtgemacht. Je höher die Wellen danach in den Medien schlagen, desto besser. Alle sollen mitbekommen, dass in Griechenland eine neue Zeit angebrochen ist. "Es geht darum, ein Exempel zu statuieren", sagt Pitsilis. "Wenn in der Vergangenheit jeder ehrlich die Steuern deklariert hätte, hätten wir dann heute so hohe Steuern?"

Steuerprüferin Efrosini macht den Job seit elf Jahren, ihr Partner ist seit drei Jahren bei den Steuerfahndern. Sie sagt: "Die Mentalität im Land muss sich ändern." Die Leute würden ja nicht nur den Staat betrügen, sondern auch sich selbst. Es könne ja jeder sehen, wofür der Staat heute kein Geld mehr hat. Wer seine Kinder auf eine öffentliche Schule schickt, muss in die eigene Tasche greifen, wenn die Klos kaputt gehen. Der Schulverein hält die Hand auf. Das Mitleid mit den Barbetreibern, die sich die Mehrwertsteuer einstecken, hält sich da in Grenzen. Die Arbeitslosenquote unter den Jungen liegt bei 50 Prozent. Die Hochschulen haben reihenweise Leute auf die Straße gesetzt, weil ihre Budgets zusammengestrichen wurden.

In der ersten Jahreshälfte lagen die Steuereinnahmen unter den Zielvorgaben. Seitdem Pitsilis durchgreift, gehen die Zahlen nach oben. Das habe auch damit zu tun, dass die Steuerprüfer jetzt überall im Land eingesetzt würden - bevorzugt dort, wo sie nicht leben. "Wer schließt gerne den Laden, wo er Kaffee trinkt", sagt Pitsilis.

Die Stimmung hat sich geändert, das bekommen Efrosini und Nikos direkt auf der Straße zu spüren. "Die Geschäftsleute sind frustriert", erzählt sie. Nicht immer laufen die Kontrollen so friedlich wie heute Nacht ab. Sie seien immer zu zweit unterwegs, zum Selbstschutz.

Zu Besuch bei einem, der deshalb gerade Konjunktur erlebt, und sich trotzdem nicht freuen mag: Michalis Markoulakos. Er ist Steueranwalt. Seine Kanzlei ist ein Familienbetrieb, der Vater hat sie 1974 gegründet. Drinnen herrscht Wohnzimmeratmosphäre: dunkle Bücherregale aus Holz, wuchtige Ledermöbel, ein Schreibtisch wie eine Festung. Aber was Michalis Markoulakos hier erlebt, das ist auch für ihn eine neue Erfahrung. Ein Fünftel seiner Mandanten käme mittlerweile aus reiner Angst. "Die fürchten den Tod und die Steuerprüfung."

Die Behörden hätten noch gar nichts gegen sie in der Hand. Aber sie wollten unbedingt sofort reinen Tisch machen. Für die Reichen im Land sei es fast unmöglich geworden, noch Steuern zu hinterziehen, sagt Markoulakos. Es sei denn, sie bringen erhebliche kriminelle Energie auf. Die Steuerfahnder jedenfalls zeigten keine Gnade mehr, sie hätten sogar einen Übereifer entwickelt. "Die Tendenz geht zum Bestrafen." Der Anwalt hat die Erfahrung gemacht, dass die Anschuldigungen vor Gericht in bald einem Drittel der Fälle am Ende zumindest teilweise keinen Bestand hätten. Deshalb empfiehlt er seinen Mandanten zu kämpfen. Die Krise, der Kampf um die Steuern, für ihn und seine Kollegen sei das ein gewaltiges Beschäftigungsprogramm. Aber ob die neue Politik hilft, das Land zu sanieren? Markoulakos hat seine Zweifel. Die Regierung kämpfe mit aller Macht gegen ein Problem an, das sie mit ihrer Politik verschärfe.

"Meine ehrliche Meinung? Viele werden in die Steuerhinterziehung getrieben."

Gerade erst hat Premier Tsipras die Griechen aufgefordert, wieder im Land zu investieren. Markoulakos sagt, da könne Tsipras lange warten. "Wer Geld im Ausland hat, hat Angst, es ins Land zu bringen. Wer kann sich schon sicher sein, dass er nicht Ärger mit der Steuer bekommt?" Gegen 40 000 wohlhabendere Griechen liefen derzeit Verfahren, im Schnitt dauerten sie fünf Jahre. Das griechische Steuerrecht brauche eine Amnestie, meint der Anwalt. Der Staat müsse eine Brücke bauen, erst dann käme das Kapital zurück.

Und all die kleinen Steuersünder? "Arme Tropfe", glaubt Markoulakos. Keine Verbrecher. "Meine ehrliche Meinung? Sie werden in die Steuerhinterziehung getrieben." Markoulakos sagt, nicht einmal seine Anwälte hätten es leicht. Wer im Jahr 50 000 Euro verdiene, müsse nach Steuern und Abgaben teilweise mit 15 000 Euro auskommen. Als Anwalt, mit Familie in Athen - eine Herausforderung.

Steuerpolitik folgt ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Eine davon lautet: Wenn man es überreizt, verkehrt sich die Wirkung ins Gegenteil. Höhere Steuern führen dann nicht zu mehr Einnahmen, sondern zu weniger - weil die Leute sich gezwungen fühlen, den Staat zu hintergehen. An diesem Punkt sieht Markoulakos Griechenland angekommen. Verrückt? "Nein", korrigiert er. "Das ist eine falsche Politik".

Markoulakos glaubt, dass im nächsten Jahr etliche kleinere Firmen und Geschäfte dichtmachen würden, weil sie unter der Steuerlast erstickten. Er sei mit seinen 20 Angestellten noch ein Großer im Geschäft, er könne bestehen. "Kann ich über diese Entwicklung glücklich sein? Nein, es wächst nur die Schattenwirtschaft."

Zurück auf der Straße. Efrosini und Nikos haben ein Problem. Die Zentrale hat angerufen. "Ihr seid verbrannt", sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung. Einer der Kellner aus dem Lokal muss die Kontrolleure mit seinem Handy fotografiert und das Bild ins Internet gestellt haben. Jetzt warnen sich die Ladenbesitzer und Kneipenbetreiber untereinander. Efrosini sagt: "Kann sein, dass wir jetzt nichts mehr finden." Auch gut.

© SZ vom 01.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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