Nachts wird Athen schön. Die Dunkelheit schluckt die Spuren der Krise. Sie lässt die Not in finsteren Hauseingängen unsichtbar werden. Dort legen sich die Obdachlosen zur Ruhe. Fassaden, tagsüber schäbig, werden im Licht der Laternen zu hübschen Kulissen. Nachts ist Athen die halbe Wahrheit.
Efrosini und Nikos könnten auf den ersten Blick als ein interessantes Liebespaar durchgehen. Sie ist eine Erscheinung. Groß, blond. Die Lippen und Nägel: rosa angemalt. Sie ist 50 geworden. Aber das zeigt sie nicht. Nikos, ihr Partner, ist jünger, Mitte 30. Er trägt Jeans, schwarzes T-Shirt und Turnschuhe. Sie gehen im Strom der Nachtschwärmer unter. Wenn man genau hinschaut, fällt auf: Sie halten immer ein bisschen zu viel Abstand.
Ein kühler Wind bläst die Schwere des Tages aus den engen Gassen. Efrosini und Nikos haben kein Ziel. Die Nacht hat gerade angefangen. Sie wird kein Vergnügen. Deshalb darf man auch nur ihre Vornamen schreiben. Die beiden sind auf der Jagd. Das bekommt gleich der tätowierte Mann zu spüren, links vor ihnen. Er steht vor seiner Bar und lockt Kunden. Efrosini und Nikos schauen sich kurz an. Warum nicht? Als sie durch die Tür schreiten, weicht das Lächeln aus Efrosinis Gesicht. Für sie beginnt jetzt die Arbeit. Sie muss sich konzentrieren. Sie tippt dem Kellner auf die Schulter und flüstert ihm ins Ohr. Der Mann lächelt jetzt auch nicht mehr. Die Steuerprüfer sind da.
Griechenland ist das Land, von dem es in Europa heißt, mit Geld könnten die Menschen nicht umgehen. Mehr als 300 Milliarden Euro Schulden hat der Staat angehäuft. Vor einem Jahr hat die Europäische Union das Land wieder einmal vor dem Bankrott gerettet. Diesmal mit 86 Milliarden Euro bis 2018. Schätzungen zufolge entgehen dem griechischen Staat im Jahr zwischen elf und 16 Milliarden Euro allein durch Steuerhinterziehung. Das entspricht einem Drittel der jährlichen Steuereinnahmen. Oder, wenn man in Leid rechnen möchte: Zwei bis drei der schmerzhaften Sparpakete, die die Regierung vor der Sommerpause umgesetzt hat. Wer einen Abend mit Efrosini und Nikos unterwegs ist, lernt, dass es komplizierter ist. Erkundungen in einer Grauzone zwischen Selbstverteidigung und Selbstbetrug.
Als der Linkspolitiker und Anti-Sparer Alexis Tsipras im Januar 2015 in Griechenland an die Macht kam, versprach er: "Wir sind die Ersten, die Steuerflucht und Steuerhinterziehung in großem Stil stoppen wollen." Das hatte man schon oft gehört. Aber jetzt tut sich tatsächlich etwas. In Griechenland ist jede Wirtschaft auch eine Zettelwirtschaft: Die Bedienungen müssen die Kassenzettel mit den Getränken und mit dem Essen an die Tische bringen. Ein komplett gedeckter Tisch umfasst nicht nur Teller, Besteck und Aschenbecher, sondern in der Regel auch ein unscheinbares Döschen für Rechnungen. Wer wissen will, ob jemand bei der Steuer sich die 24 Prozent Mehrwertsteuer schenkt, der muss die Tische inspizieren. Nikos ist schon unterwegs. Als er zurückkommt, sagt er: "Hier stimmt etwas nicht."
Er hat Rechnungen gefunden, ausgestellt am Nachmittag, 14.53 Uhr. Aber so lange, sagen die Gäste am Tisch, waren sie gar nicht hier. In zwei anderen Fällen muss ein Kollege des Kellners noch Rechnungen ausgestellt haben, nachdem die Prüfung begonnen hat. Noch zwei Verstöße. Der Kellner tippt hektisch in sein Handy. Er muss den Chef erreichen. Ob er die Unregelmäßigkeiten erklären könne? "Tut mir leid", sagt er. Könne er nicht. Alle paar Wochen kämen Kontrolleure, sagt er. Und dass er es langsam satthabe. 250 Euro Strafe muss der Wirt zahlen.
Darauf haben viele in Europa lange gewartet
Das ist die neue Härte, die die Fahnder an den Tag legen. Lange hat man in Europa darauf gewartet, dass die Griechen die Steuerhinterziehung ernsthaft bekämpfen. Bis zuletzt herrschte der Eindruck vor: Die wollen gar nicht, selbst wenn man ihnen die Namen von Steuerhinterziehern auf dem Tablett präsentiert.
2010 hatten die Griechen von der damaligen französischen Finanzministerin Christine Lagarde Kontodaten von mehr als 2000 griechischen Kunden der britischen Großbank HSBC erhalten. Die Liste verschwand zwischenzeitlich und als sie wieder auftauchte, fehlten Namen. Die Lagarde-Liste, die berühmteste von mittlerweile vier Listen mit konkreten Verdachtsfällen, ist zum Symbol für den mangelnden Fahndungseifer geworden, wenn es um reiche Griechen geht. Auch sechs Jahre später ist sie noch nicht abgearbeitet. Etwa eine Milliarde Euro haben die Fahnder als Steuerschulden ermittelt, gerade einmal 110 Millionen Euro haben sie eingetrieben. Vor Gericht ziehen sich die Prozesse hin.