Süddeutsche Zeitung

Steuern:Deutschland hat Geld im Überfluss - was jetzt zu tun wäre

Wohin mit den Steuermilliarden? Die Regierung zaudert. Dabei wäre jetzt der Zeitpunkt für große Reformen - oder mutige Investitionen in Forschung, Entwicklung und Bildung.

Kommentar von Cerstin Gammelin, Berlin

Selten war Steuerpolitik so einfach und zugleich so anspruchsvoll. Einfach, weil Geld scheinbar im Überfluss vorhanden ist. Anspruchsvoll, weil die Entscheidung über die kluge Verteilung der Einnahmen angesichts der gewaltigen Veränderungen in und um Deutschland mehr zur Last als zur Lust gerät. Mehr als jeder andere Bundesfinanzminister vor ihm steht Wolfgang Schäuble in der Verantwortung, mit seiner Finanzpolitik eine Gesellschaft im Umbruch zu stützen.

Bisher fällt die Bilanz trostlos aus. Schäuble weist zwar immer darauf hin, dass die Globalisierung nun auch Deutschland wachgeküsst habe. Indes lässt er nicht erkennen, wie es mit dem ungleichen Paar weitergehen soll. Deutschland und die tosende Welt - wie sollen sie zueinanderkommen? Schäuble wäre prädestiniert, die staatliche Fantasielosigkeit beim Geldausgeben zu beenden. Er ist das Kabinettsmitglied mit der längsten Erfahrung, er ist der einzige deutsche Politiker, der seine Überzeugung als europäischer Föderalist hochhält.

Die Bundesregierung sollte sich einen visionären Coup leisten

Europa, Rente, Steuern, Zinsen, Jobs - dies sind die Probleme, die den Bürgern zunehmend Sorgen bereiten und dazu beitragen, dass sich Parteien wie die AfD mit ihren einfachen Lösungen etablieren. In diesem Klima ist es kurzsichtig, den Wunsch der Bürger nach Steuererleichterung einfach nur abzutun. Wenn es der oberste Steuerpolitiker ablehnt, die Mehreinnahmen an die zurückzugeben, die sie erwirtschaften - dann muss er einen Ausgleich anbieten.

Nun etwa wäre die Zeit gekommen, die strukturellen Fehler im Steuersystem anzugehen. Zum Beispiel werden mittlere Einkommen zu hoch belastet. Schon Durchschnittsverdiener kommen mit dem Spitzensteuersatz in Berührung. Kapitaleinkommen werden zu niedrig besteuert, gemessen an den Arbeitseinkommen. Weigert sich Schäuble, diese Probleme zu benennen, könnte sich das auf die Bundestagswahl 2017 auswirken.

Gut ist es, die Integration bestätigter Asylbewerber zu unterstützen. Die Bundesregierung schiebt ein riesiges Konjunkturprogramm an, wenn sie Lehrer und Dolmetscher einstellt, Wohnungsbau fördert, Jobs bezuschusst. Aber dieses Programm allein reicht nicht aus. Angesichts der Steuereinnahmen kann sich die Bundesregierung einen visionären Coup leisten, sie kann dafür sorgen, dass Unternehmen nicht mehr ins Silicon Valley fahren müssen, wenn sie die Zukunft sehen wollen. Dort investieren sie in Träume, in futuristische E-Fahrzeuge - und die Bundesregierung fördert traditionelle Dieselhersteller mit Milliarden Euro.

Schäuble sollte die Einnahmen in Forschung und Entwicklung stecken

Verantwortungsvoll und visionär wäre es, die Steuereinnahmen in Forschung, Entwicklung und Bildung zu stecken. Dort kann Überraschendes gelingen. Wäre es etwa möglich, die weltweit erste Batteriezelle zu bauen, die Tageslicht in elektrische Energie wandeln und speichern kann? Was für ein Signal würde gesetzt für die Energiewende und die Fahrzeuge der Zukunft. Jenseits großer Entwürfe bleiben vergleichsweise einfache Aufgaben wie der flächendeckende Ausbau der Breitbandnetze, des mobilen Internets oder moderner Schnellzüge. Hier zu investieren würde der Volkswirtschaft Deutschlands dauerhaft helfen.

Zur Sicherheit gehört auch ein stabiles Europa. Doch dieses Europa wankt. Gleich tektonischen Platten haben sich die europäischen Volkswirtschaften verschoben und aus Deutschland eine leuchtende Insel in einem dämmerlichtigen Krisensee gemacht. Es gibt Jobs, Lehrstellen, die Konjunktur wird von stabiler Binnennachfrage und Export getragen. Dank Niedrigzinspolitik schreibt Schäuble die schwarze Null, kann es sich Deutschland leisten, europäische Flüchtlingskosten mal eben aus Überschüssen zu finanzieren.

Das Undenkbare ist denkbar geworden

Bei den Nachbarn erzeugt das Spannungen. Frankreich, Italien und Spanien verzeichnen zweistellige Arbeitslosenzahlen, zu hohe Schulden, keinen finanziellen Spielraum für Reformen - auch wegen der strikten Euro-Regeln. Sicher, jedes Land ist zuerst für sich selbst verantwortlich. Aber die Euro-Länder haben ihr Schicksal verknüpft. Es liegt im deutschen Interesse, darüber nachzudenken, wie die auseinanderdriftenden Volkswirtschaften einander wieder finden können.

Die Krise ist gefährlich genug, um Undenkbares zu denken. Etwa ließen sich die Schuldenregeln für Investitionen erleichtern; oder man könnte die gemeinsame Arbeitslosenversicherung einführen, mit der ein soziales Auffangnetz in Phasen harter Reformen gespannt würde; eine Modernisierungszusage könnte mit finanziellen Hilfen verknüpft werden. Dazu muss Berlin auf die anderen EU-Mitglieder zugehen - weil es dazu in der Lage ist. Wer sonst sollte es tun?

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SZ vom 06.05.2016/vit
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