Süddeutsche Zeitung

Steuerfreibetrag:Wertschätzung allein reicht nicht

Eine Studie aus China zeigt, dass Mitarbeiter motivierter sind, wenn sie netto mehr verdienen.

Von Marcel Grzanna

Geschichten über Trinkgelder für Supermarkt-Kassierer werden über Jahrzehnte die Erinnerungen an den Corona-Lockdown begleiten. Die unüblichen Extrazahlungen an Angestellte im Einzelhandel waren ein Zeichen der Wertschätzung. Während Ämter, Unternehmen oder Restaurants entweder ganz zumachten oder den Kundenkontakt auf ein absolutes Minimum reduzierten, standen die Frauen und Männer in den Lebensmittelmärkten, Getränkeshops oder Tankstellen täglich Auge in Auge mit Dutzenden, manchmal Hunderten Kunden. Die Angst vor dem Virus war allgegenwärtig.

"Diese Zeit hat bewiesen, welchen Stellenwert der Einzelhandel in unserer Gesellschaft einnimmt. Und die Kunden haben das entsprechend honoriert", sagt Bernd Ohlmann vom Handelsverband Bayern. Der finanzielle Dank war ein nettes Zubrot für die Angestellten. Gefreut haben wird es die Mitarbeiter allemal. Es ist eine Form der Wertschätzung.

Ob ein Mitarbeiter motivierter seine Aufgabe angeht, wenn er mehr Geld verdient, ist derweil umstritten. Schon vor fast zehn Jahren sorgte eine Studie des Markforschungsinstituts Gallup für Aufsehen, als sich herausstellte, dass mehr Geld nicht zwingend dazu führt, dass ein Angestellter engagierter zur Werke geht. Selbst bei einem Jahreseinkommen, das dreimal höher lag als das anderer Angestellter, war die Motivation die gleiche.

Für den Einzelhandel sind motivierte Mitarbeiter im direkten Kundenservice elementar wichtig. Das Kauferlebnis begleitet die Kunden samt der Produkte mit nach Hause. Wer schlechte Erfahrungen mit dem Service macht, mag dennoch wiederkommen, aber echte Treue zu einem bestimmten Ladenlokal oder eben Supermarkt wird er eher nicht entwickeln. Insofern liefert das Resultat einer neuen Studie aus China einen interessanten Blick auf den Einzelhandel.

Forscher der China Europe International Business School (CEIBS) in Shanghai haben die Auswirkungen der Erhöhung des Steuerfreibetrags im Oktober 2018 untersucht. Ins Visier nahmen sie dafür Servicekräfte einer Textilwaren-Kette, die in der gesamten Volksrepublik China vertreten ist: Metropolen wie auch eher ländliche Regionen. Das Resultat: Die Arbeitsmoral und die Bereitschaft, sich in Unternehmensabläufe einzubringen haben sich signifikant erhört. "Bislang war es uns nur möglich, die Auswirkungen von Steuerpolitik auf der Makroebene abzulesen, also vornehmlich an Ausschlägen des Bruttoinlandsprodukts. Die optimalen Bedingungen der aktuellen Studie erlauben uns dagegen einen Blick auf die Graswurzelebene", sagt Finanzexperte Frank Yu von der China Europe International Business School in Shanghai.

Mit dem Stellen von Kleidung, Essensmarken oder Tickets kann man Mitarbeiter binden

Ausgangspunkt war die Erhöhung des Steuerfreibetrages von monatlich 3500 auf 5000 Yuan, umgerechnet etwa 440 bis 630 Euro. Die Studie sammelte zwischen Januar 2017 und März 2019 Daten von rund 9000 Angestellten wie beispielsweise deren Verkaufsbilanzen, die Zahl ihrer Krankmeldungen und ihre selbst gewählte Integration in die Organisationskultur. Dazu zählten Weiterbildungen, Einarbeitung neuer Angestellter, aber auch Maßnahmen zur Teambildung. Allesamt Tätigkeiten, die freiwillig und ohne Aussicht auf zusätzliche Bezahlung wahrgenommen werden können.

Jene Verkäuferinnen und Verkäufer, die weniger als 3500 Yuan verdienten und deswegen nicht von den Steuervorteilen profitierten, bildeten die Kontrollgruppe. Die Wissenschaftler stellten keine nennenswerten Veränderungen in ihrem Arbeitsverhalten fest. Jene dagegen, die mehr verdienten, weil sie weniger Einkommen versteuern mussten, erhöhten ihre Produktivität, meldeten sich seltener krank und erschienen pünktlicher zur Arbeit als sonst. "Typische Indikatoren, die darauf hinweisen, ob eine Methode der Steuerpolitik wirkt oder nicht, lassen in der Regel keine Rückschlüsse auf das unmittelbare Verhalten von Angestellten zu. Hier ist es uns jedoch gelungen, die Wirkung von Steuererleichterungen auf diese Gruppe zu isolieren", sagt Yu.

Die Forscher sehen darin eine Bedeutung der Studie, die über Chinas Landesgrenzen hinausgeht. Der Volkswirt Horst Löchel vom Sino-German Center der Frankfurt School of Finance & Management hält das Resultat der Untersuchung für "ganz interessant", weil es allgemein bedeuten würde, "dass eine Steuersenkung nicht nur die Nachfrage erhöht, sondern auch das Angebot verbessert." Ob das Ergebnis für China auch für Deutschland und Europa verallgemeinert werden kann, sei allerdings fraglich. "Vor allem deshalb, weil auf Grund des höheren Lohnniveaus bei uns die Effekte auf die Arbeitsintensität und Effektivität schwächer ausfallen dürften", glaubt Löchel.

Vertreter des deutschen Einzelhandels wagen aufgrund der Studie aus China derweil noch keine Rückschlüsse auf ihre eigenen Mitarbeiter zu ziehen. Eine interessante Beobachtung machen sie dennoch. "Was wir spüren ist, dass die Kürzung des Nettogehalts ungemein demotivierend auf die Angestellten wirkt. Da genügen bereits wenige Prozentpunkte, um diesen Effekt wahrzunehmen", sagt Bernd Ohlmann vom Handelsverband.

Allerdings sei ein ebenso positiver Effekt zu vernehmen, wenn der Arbeitgeber steuer- und sozialversicherungsfreie Extras für seine Mitarbeiter übernimmt. Beispielsweise die Bezahlung von Arbeitskleidung, Essensmarken oder Eintrittskarten für kulturelle Veranstaltungen. "Das sind probate Mittel, die Mitarbeiterbindung und damit auch die Motivation der Angestellten zu erhöhen. Das hat vor allem damit zu tun, dass diese Vergünstigungen unmittelbar vom Arbeitgeber kommen und nicht wie bei einer Steuersenkung vom Staat", sagt Ohlmann.

Unklar bleibt auch der Einfluss kultureller Differenzen. Während in Deutschland zunehmend die Sinnfrage der eigenen Arbeit gestellt wird und Geld für viele Angestellte nicht mehr unbedingt das wichtigste Kriterium ist, steht der Verdienst bei chinesischen Arbeitnehmern in den allermeisten Fällen im Vordergrund. Besonders auch weil das Sozialversicherungssystem vergleichsweise wenig Sicherheiten bietet, die über eine geringe Grundversorgung hinausgehen.

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Quelle:
SZ vom 01.10.2020
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