Stereotypen:"95 Prozent der Werbung ist unkreativ"

Amir Kassaei

Amir Kassaei, Kreativchef der DDB-Werbeagentur: 95 Prozent der Werbung ist unkreativ

(Foto: privat)

Amir Kassaei, globaler Kreativchef der Werbeagentur DDB, im Gespräch über das ordnungsliebende Deutschland, überholte Rollenmuster - und warum der Edeka-Spot sein Ziel verfehlt.

Interview von Lars Langenau und Benedikt Peters

SZ: Wenn man den Fernseher einschaltet, stößt man von der Telekom bis Ferrero auf Weihnachtswerbung mit heilen Familien und blonden Kindern. Ist das Deutschland?

Amir Kassaei: In der Werbung wird tatsächlich viel mit Klischees und Stereotypen gearbeitet, die Muster auslösen. Und wir sind nun einmal kein klassisches Multikultiland. In den USA sieht das ganz anders aus.

Aber warum sind da nur Weiße, obwohl mehr als neun Millionen Ausländer in Deutschland leben?

Die verwendeten Rollenklischees sind ein Spiegelbild der Gesellschaft. Es ist einfach noch nicht in den Köpfen der Deutschen angekommen, dass Deutschland gesellschaftlich ein multikulturelles Land geworden ist. Es scheint mir, als sei Deutschland noch nicht so weit, dass man auch in der Öffentlichkeit andere Hautfarben sieht und akzeptiert. Das hat wenig mit den Werbe- und Marketingverantwortlichen zu tun, sondern mit dem Land. Ich bin selbst vor dem Irak-Iran-Krieg aus Iran geflohen und nicht der hellhäutige Typ. Eher ein klassisches Ölauge aus dem Orient. Aber ich glaube, dass wir derzeit mit der großen Flüchtlingswelle nicht vernünftig umgehen, weil wir es einfach nicht kennen. Unbekanntes erzeugt Angst.

Warum sind immer Kinder und Hunde in den Werbespots?

Weil sie tausendfach getestet wurden - und von irgendwelchen Idioten, die keine neuen Wege gehen, immer wieder benutzt werden. Weil es eben funktioniert.

Warum ist die Werbung so klischeeverhaftet und bedient sich immer wieder bestimmter Stereotypen?

Weil andere Stereotypen vielleicht Ängste auslösen. Man glaubt, dass man so seine Marketingziele nicht erreichen kann. Wir Werbeleute haben vielfach nicht den Mut, gewohnte Wege zu verlassen, mit Konventionen zu brechen. Also verlassen wir uns immer wieder auf das Althergebrachte. Bei vielen Marken werden vor der Ausstrahlung die Werbespots getestet, dabei kommen oft Dinge raus, die dann zu ernst genommen und verfolgt werden, anstatt sich auf sein Bauchgefühl zu verlassen.

Inwieweit nimmt die Werbebranche neue psychologische Erkenntnisse, auch die der Hirnforschung, auf? Vor einiger Zeit war mal das Stichwort Neuromarketing en vogue.

Viele Leute wollen einfach ihren Job machen, anstatt mutig zu sein. Sie suchen nach Ausreden und nach Buzzwörtern wie Neuromarketing. Das sind Begriffe, die wieder verschwinden. Ich glaube, dass Werbung nur auf der Grundlage einer ehrlichen Einfalt funktioniert. Dass man versucht, Menschen emotional zu bewegen und einen wahren Nutzen wiederzugeben. Wenn man das hinbekommt, dann hat man grandiose Kommunikation. Doch 95 Prozent der Werbung ist scheiße. Nicht im Sinne von Müll, sondern einfach unkreativ, nicht effektiv, langweilig, klischeehaft.

Manchmal hat man den Eindruck, es wird nur noch Lifestyle verkauft und nicht mehr die Fähigkeit des Produktes. Hat sich Werbung verändert?

Wir haben das Problem eines gesättigten Marktes, wo wir 20 bis 30 Optionen für einen Zweck haben - und ein singulärer Produktnutzen, der sich von anderen unterscheidet, fast nicht mehr zu finden ist. Also muss man dem Produkt eine Art Aura, eine Haltung mitgeben. Wir Werber müssen uns, wenn wir den Job ernst nehmen, auf die schmerzhafte Suche nach wahrhaft Einzigartigem in dem Produkt machen.

Dem Edeka-Spot fehlt die Relevanz

Bricht Edeka mit seinem emotionalen Spot aus der Werbesuppe aus?

Ja, das ist eine sehr, sehr schöne Geschichte mit dem einsamen alten Mann. Aber ich frage mich: Was hat das mit der Marke Edeka zu tun? Wir machen keine Kunst und erzählen keine sinnbefreiten Geschichten. Und in diesem Fall steht die Kommunikation für jede Marke, aber nicht speziell für Edeka. VW bezahlt uns, um für Volkswagen Werbung zu machen, damit die Leute da draußen VW verstehen. Wenn ich Werbung machen würde, die auch für Mercedes, BMW, Opel oder wen auch immer geeignet ist, dann habe ich meinen Job verfehlt.

Aber Edeka hat doch damit große Aufmerksamkeit erzeugt. Ist das nicht schon das Ziel?

Reichweite allein reicht nicht. Sie können auch in der Oper einen Furz lassen und erzielen damit eine große Reichweite. Die erreicht man über digitale Vernetzung inzwischen ziemlich einfach. Es geht aber um Relevanz.

Die Briten zeigen, dass man Werbung auch anders, viel ironischer machen kann. Warum ist deutsche Werbung so schlecht?

England hat eine ganz andere Tradition. Außerdem ist Deutschland kein kreatives Land. Es steht für Ingenieurswesen, Systematik, Organisation und Effizienz. Nicht unbedingt für Regelbruch, Kreativität, Wahnsinn oder Non-Konformität. In Deutschland ist die kreative Klasse vor 80 Jahren vergast worden, womit ich nicht sagen will, dass nur Juden kreativ sind. Aber wir haben ein Manko, weil uns die unterschiedlichsten Einflüsse in Deutschland einfach fehlen. Dieses Manko besteht auch in der Literatur, in der Kunst und in anderen Bereichen.

Man sieht auch fast immer klassische Rollenklischees. Inzwischen darf die Frau in der Werbung auch schon Auto fahren, trotzdem wirkt sie wie im vergangenen Jahrhundert verhaftet.

Das Frauenbild in der Werbung ist aus mehreren Gründen überholt. Es spiegelt nicht die Frauen wider, wie sie in der Gesellschaft auftreten. Und es ist bedenklich, wenn wir sehen, was wir damit suggerieren: Wir positionieren Frauen als rein physische Sexobjekte oder zeigen sie als Magermodels. Es stört mich, dass wir damit natürlich auch die kommende Generation von Frauen prägen. Aber das ist das gleiche wie mit der weißen Haut, die Menschen, die solch eine Werbung verantworten, denken kein Stück weiter.

Machen Sie das anders in Ihrer Agentur?

Wir machen sicher nicht alles richtig. Aber der Anspruch ist da, es anders zu machen. Wir haben einen Spot in Kanada für VW gemacht, der mit einem Afroamerikaner funktioniert. Würden wir das in Deutschland machen, würde man fragen: Was macht denn der Afrikaner da? Es würde viele Fragezeichen aufwerfen.

____________________________

Amir Kassaei, 47, im Iran geboren, in Österreich aufgewachsen, in Frankreich studiert. Ist der weltweite Kreativchef von DDB und Präsident des Art Directors Club Europe. Er ist einer der meistausgezeichneten und erfolgreichsten Kreativen der Welt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: