Süddeutsche Zeitung

Steinway:Das Klavier spielt selbst

Als ob Horowitz noch einmal am Flügel säße: Steinway hat eine Technik perfektioniert, die Flügel von selbst spielen lässt und sie zum Aufnahmegerät macht - aber wer kauft sich so ein sündteures Instrument?

Von Helmut Martin-Jung, München

Thomas Hoffarth will da keine Missverständnisse aufkommen lassen. Ein Steinway-Flügel, das sei noch immer ein Steinway-Flügel, sagt der gelernte Klavierbauer, der bei dem traditionsreichen Unternehmen für das jüngste Projekt zuständig ist. Fragen könnte man sich das ja schon, wenn man weiß, dass in viele Modelle nun Dinge eingebaut werden wie Wlan, eine 500-Gigabyte-Festplatte oder ein HDMI-Buchse. Was das soll? Nun, es ist eigentlich nur das Beiwerk für eine Menge anderer Technik. Technik, die bis vor wenigen Jahren noch nicht zu den etwa 12 000 Teilen gehörte, die in einem Flügel stecken. Es geht um kleine Motoren, um Infrarot-Sensoren, um Platinen. Und natürlich geht es um Software - ohne sie wüssten die kleinen Motoren am Ende der Tasten im Inneren des Instruments gar nicht, was sie wie tun sollen. Das sollen sie aber: Denn diese Flügel können von selbst spielen, und zwar exakt so, wie ein Mensch es eingespielt hat - oder sogar noch besser.

Aber gab's das nicht schon? Klar, Anfang des 20. Jahrhunderts bereits erfanden deutsche Klavierbauer eine mechanische Apparatur, mit der sich Klavierspiel aufzeichnen und erstaunlich gut wiedergeben ließ. Die Rolle der Software spielte bei den Welte-Mignon-Flügeln und Klavieren ein Lochstreifen aus Papier. Größen der Zeit wie Gustav Mahler, Claude Debussy oder George Gershwin spielten darauf Stücke ein. Das Verfahren war den damaligen Methoden der Tonaufzeichnung weit überlegen - vorausgesetzt, man konnte sich die teuren Instrumente leisten. Viele der feinen und feinsten Nuancen der Interpretationen konnte die Maschine aber nicht erfassen. Auch der in Japan beheimatete Yamaha-Konzern hat selbstspielende Flügel im Programm, die sogar mit einem häuslichen Soundsystem verknüpft werden können - das Orchester aus den Lautsprechern, der Klavierpart, naja, live vom Flügel. Auch Aufnehmen ist damit möglich.

1024 Abstufungen, wie eine Taste gespielt wird

Steinway ist ein paar Schritte weiter gegangen. Das betrifft zum einen die Technik, die bei dem Spirio genannten System in die Instrumente eingebaut wird, zum anderen die Software. Dem Unternehmen, dessen Konzertflügel von der überwiegenden Mehrzahl der Pianisten bevorzugt werden, war es sehr wichtig, auf keinen Fall Klang oder Spielverhalten der Instrumente zu beeinflussen. Deshalb erfassen nicht etwa Drucksensoren, wie ein Pianist oder eine Pianistin welche Taste gedrückt haben. Das machen Infrarotsensoren. Aus den Daten, die sie über die Bewegung der Hammerstiele sammeln, errechnet ein Algorithmus, was da gespielt wurde. Oben auf der Mechanik der Flügel werden Platinen angebracht mit der dafür nötigen Elektronik.

Die Tasten selbst werden von Pins, kleinen Stiften also, bewegt. Sie drücken die Tasten motorisch gesteuert an ihrem Ende innen im Flügel nach oben. "Das ist genauso, als würde man vorne nach unten drücken", sagt Steinway-Mann Hoffarth. Das Entscheidende ist natürlich, wie gedrückt wird. 1024 Abstufungen kann das System unterscheiden, "das ist so fein, dass nicht einmal Weltklasse-Pianisten das ausnutzen können", sagt Hoffarth. Gespeichert werden die Daten in einem Softwaresystem, das im Unternehmen selbst entwickelt wurde. Das Schwierigste dabei: die Algorithmen zu entwickeln, mit denen das Spiel erfasst und wiedergegeben wird.

Die Programmierer verstanden erst nicht, was die Musiker wollten

"Da saßen Pianisten, Ingenieure und Softwareprogrammierer zusammen", erzählt Hoffarth, "die Programmierer verstanden anfangs gar nicht, was die Musiker von ihnen wollten und wie sie das in Software umsetzen sollten." Mehr als 2200 sogenannte Steinway-Artists machen mittlerweile dabei mit, den Katalog an verfügbarer Musik zu erweitern. Das Unternehmen hat sogar ein Verfahren entwickelt, aus alten Aufnahmen das Klavierspiel so zu extrahieren, dass es auf dem Selbstspielsystem wiedergegeben werden kann - und das sogar synchron zu Filmaufnahmen, falls es die gibt.

Hoffarth hat dazu eine Geschichte: 1986 gab der legendäre Vladimir Horowitz ein Konzert in seiner alten Heimat Russland. Einer Frau, die damals dabei war in der großen Halle des Moskauer Konservatoriums, sollen die Tränen gekommen sein, als sie dem Computer-Steinway zuhörte. Genauso sei es gewesen. Ob es stimmt, - sei's drum. Es ist eine schöne Geschichte mit viel Emotion.

Wie viel Emotion es auslöst, wenn man einem Flügel dabei zusieht, wie er scheinbar von Geisterhand gespielt wird, weil man gerade Lust hat auf echten Sound, auf den wahren Klavierklang, das mögen diejenigen beurteilen, die sich einen solchen Flügel gekauft haben. Mindestens 132 000 Euro muss man dafür anlegen, dann kann das Instrument, ein Modell O, aber nur wiedergeben. Wer auch die Aufnahmefunktion wünscht, genannt Spirio.r, muss mindestens 175 000 Euro in ein Modell D investieren, Sonderwünsche und -modelle schlagen noch höher zu Buche. Die Hälfte seines Umsatzes macht Steinway mittlerweile mit dem Spirio-Programm, 40 Prozent aller neuen Flügel sind damit ausgerüstet.

"Ein hochwertiges Gadget und Statussymbol"

Und wer kauft so etwas? Hotels? Musiker? "Die überwiegende Mehrzahl geht an Privatkunden, die in was Schönes investieren", sagt Hoffarth, "das ist ein hochwertiges Gadget und Statussymbol." Aber nicht nur, schiebt er gleich hinterher: Es sei für jeden Pianisten auch interessant, sich aufzunehmen und sich mal aus der Zuhörerperspektive zu hören. Ausreichender Kontostand vorausgesetzt. Die beliebteste Kategorie ist übrigens Pop-Musik, "wir sprechen damit komplett neue Käuferschichten an", freut sich Hoffarth.

Mit den Spirio-Flügeln werden mittlerweile auch Audio-Aufnahmen produziert. Das klingt auf den ersten Blick zwar komisch - warum nimmt man nicht das Spiel selbst auf? Doch es gibt zwei gute Argumente: Der automatische Flügel wird im Gegensatz zum menschlichen Spieler nicht müde, gibt das einmal eingespielte immer gleich wieder. So können die Toningenieure herumexperimentieren mit den Mikrofonen, um den Klang bestmöglich einzufangen.

Und noch etwas kommt dazu: Die Software zeichnet nicht bloß stur auf. Alle Parameter der Musik können verändert werden. Ist das Pedal ganz oder halb oder zu drei Vierteln durchgedrückt? Sollte diese Passage nicht etwas leiser sein, die Mittelstimme etwas prominenter hervorgehoben werden? Vielleicht kommt es ja demnächst bald dazu, was schon mit den Welte-Flügeln vor 100 Jahren passierte: Komponisten wie Paul Hindemith schrieben Stücke, die gar nicht mehr von Menschen gespielt werden konnten, sondern nur programmiert. Was wohl Beethoven dazu gesagt hätte.

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