VerkehrStillstand als Volkssport

Lesezeit: 2 Min.

Auf insgesamt 203 830 Kilometer summierte sich der Stau auf deutschen Autorbahnen während der Sommerferien.
Auf insgesamt 203 830 Kilometer summierte sich der Stau auf deutschen Autorbahnen während der Sommerferien. (Foto: Marijan Murat/Marijan Murat/dpa)

Die Regierung will, dass die Deutschen mehr arbeiten. Doch die Bundesbürger haben schon einen Vollzeitjob: Sie warten – im Stau, im Zug oder am Gate.

Von Kerstin Bund

Die Bundesregierung hätte gern, dass die Deutschen mehr arbeiten. Dafür soll ein ganzes Reformpaket sorgen: Rentner etwa sollen mit einem Steuerbonus gelockt werden, über die Pensionsgrenze hinaus weiterzuschuften – das Ganze nennt sich verkaufsfördernd „Aktivrente“. Außerdem sollen Zuschläge für Überstunden künftig steuerfrei sein. Teilzeitkräfte, die auf Vollzeit aufstocken und dafür eine Prämie vom Chef kassieren, sollen ebenfalls steuerlich begünstigt werden. Alles kluge Einfälle, zweifellos gut gemeint – aber sie gehen am eigentlichen Problem vorbei.

Denn was, wenn die im internationalen Vergleich besonders geringe Jahresarbeitszeit der Deutschen gar keine Frage des Wollens ist, sondern eine des Nicht-anders-Könnens? Gemeint ist nicht etwas so Banales wie fehlende Kitas oder Ganztagsschulen – das ließe sich mit Geld sicherlich lösen. Es geht auch nicht um institutionelle Rahmenbedingungen, die tradierte Rollenbilder von Männern und Frauen zementieren. Die dazu führen, dass in Deutschland besonders viele Frauen in Teilzeit hängen bleiben, weil Minijobs, beitragsfreie Mitversicherung in der Krankenkasse oder steuerliches Ehegattensplitting sie dazu verleiten. Nein, denn auch das könnte ein Gesetzgeber mit etwas gutem Willen ändern.

Vielleicht ist die Ursache viel simpler. Die Deutschen können schlicht nicht mehr arbeiten, weil sie ihre Lebenszeit damit verbringen, in diesem Land von A nach B zu kommen. Das beginnt schon im Urlaub, wo man sich eigentlich erholen sollte. Gerade hat der ADAC seine Sommerbilanz vorgelegt: In den zwölf Ferienwochen zählte der Automobilclub Staus mit einer Gesamtlänge von 203 830 Kilometern auf den deutschen Autobahnen. Das ist mehr, als ein altgedientes Auto bis zu seiner Pensionierung schafft – wenn es denn fahren könnte. Der aufsummierte Zeitverlust: 119 233 Stunden. Das sind 4 968 Tage, also 13,6 Jahre voller Stop-and-Go, Gestank und Gequengel. In dieser Zeit hätte man beinahe einen Berliner Flughafen fertig bauen können, vielleicht sogar pünktlich.

Die mit Abstand schlimmste Staustrecke war die Autobahn 99 bei München: offiziell Umfahrung, inoffiziell Nadelöhr. Die längste Stoßstangenkette bildete sich auf der A24: 35 Kilometer Stillstand, mehr als zehn Stunden lang. Genug Zeit, um auf dem Mittelstreifen einen Flohmarkt aufzumachen oder eine Grillparty zu veranstalten – die Würstchen hätte man im Motorraum warmhalten können.

Die ganze Familie spielt „Ich sehe was, was du nicht siehst“ – und es ist grau

Nun könnte man sagen: Dann sollen die Leute eben umsteigen auf Bus, Bahn oder wenn’s sein muss, auf das Flugzeug. Aber bei diesen Verkehrsmitteln sieht es nicht besser aus. Auf den Flughäfen wird ständig gestreikt, es fehlt das Bodenpersonal oder die Crew steckt noch irgendwo über den Wolken. Dieser Flug verspätet sich, hieß es in diesem Sommer bei jedem dritten Abflug. Und bei der Bahn sind sechs von zwei Fernzügen unpünktlich oder war es umgekehrt? Egal, jedenfalls trifft es immer den Zug, in dem man selbst sitzt.

So fügt sich alles zu einer sehr eigenen deutschen Version von Work-Life-Balance: tagsüber Arbeit, abends Stau, zwischendrin ein Zug, der irgendwo zwischen Wolfsburg und Nirgendwo stehenbleibt. Wer Glück hat, darf den Feierabend dann mit einer Verspätungsdurchsage der S-Bahn beginnen – eine Störmeldung, die so verlässlich kommt wie die Regenvorhersage für Hamburg.

Und den Urlaub? Den verbringen die Deutschen längst zwischen Ausfahrt 12 und 13. Dort, wo sich die Autos in temporäre Wohnzimmer verwandeln: Kreuzworträtsel auf dem Lenkrad, Hörbuchmarathon auf dem Rücksitz. Die ganze Familie spielt  „Ich sehe was, was du nicht siehst“ – und es ist grau.

So lebt man in einem Land, in dem die eigentliche Freizeit nicht auf Mallorca, sondern auf dem Mittelstreifen stattfindet. Wer produktiv sein will, muss akzeptieren, dass die Work-Life-Balance in diesem Land primär eins bedeutet: weniger Life, weniger Work – dafür umso mehr unfreiwillige Wartezeit dazwischen. Stillstand als Volkssport – und wir alle haben die Goldmedaille verdient.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

  • Medizin, Gesundheit & Soziales
  • Tech. Entwicklung & Konstruktion
  • Consulting & Beratung
  • Marketing, PR & Werbung
  • Fahrzeugbau & Zulieferer
  • IT/TK Softwareentwicklung
  • Tech. Management & Projektplanung
  • Vertrieb, Verkauf & Handel
  • Forschung & Entwicklung
Jetzt entdecken

Gutscheine: