Statistik:Was Armut in Deutschland wirklich bedeutet

Statistik: Den Einkaufswagen nach Belieben zu füllen, ist für viele Bundesbürger keine Selbstverständlichkeit.

Den Einkaufswagen nach Belieben zu füllen, ist für viele Bundesbürger keine Selbstverständlichkeit.

(Foto: Jessy Asmus)

Mehr als 16 Millionen Menschen in Deutschland sind von Armut bedroht. Sagt die Statistik. Doch die Zahlen liefern ein verzerrtes Bild.

Von Pia Ratzesberger

Heller Putz, tiefe Fenster, rundherum Grün, reiche Leute scheinen in diesem Haus im Münchner Süden zu wohnen, zumindest wohlhabend. Doch dann die Treppe hinauf, Kabel stechen aus den Wänden, niemand hat mehr die Fugen verputzt und hinter der Türe im ersten Stock steht dieses eine große Bett, gleich am Fenster. Die Tochter und ihr Freund schlafen hier, lila Decke, der Fernseher flirrt, wie man sich ein Jugendzimmer so vorstellt. Aber in welchem Jugendzimmer schläft schon die Mutter an der Wand gegenüber?

Auf der schmalen Pritsche zieht sie am Abend die Decke über die müden Beine, löscht das Licht, auch das Dunkel verbirgt nicht, dass sie sich keine Privatsphäre leisten kann. Geht eben nicht anders. Sie ist es gewohnt, dass vieles nicht geht. Sie, die Mutter, 48 Jahre alt, sitzt tagsüber an der Kasse, schiebt die Waren über das Band, nur in Teilzeit, aber wenigstens bringt das 1000 Euro netto im Monat.

Armut messen die Behörden nicht

Selbst wenn sie sich dieses Zimmer nicht teilen müsste, selbst wenn sie allein leben würde, wäre sie mit ihrem Verdienst also "von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht", so nennt es das Statistische Bundesamt. Mehr als 16 Millionen Deutsche waren das im vergangenen Jahr einer neuen Statistik zufolge, die die Behörde am Donnerstag veröffentlicht hat. Demnach gelten 20 Prozent aller Bürger als armutsgefährdet, und das in einem reichen Land wie Deutschland. Solche Zahlen knallen erst einmal, dabei sind sie eigentlich nicht mehr als eine Skizze, der Versuch eines Bildes.

Denn wer in diesem Land tatsächlich arm ist, weiß niemand, Armut messen die Behörden nicht, sondern allein die sogenannte Bedrohung von Armut oder sozialer Ausgrenzung - ja, dabei werden viele Menschen erfasst, die sich arm fühlen und die man gemeinhin als arm bezeichnen würde. Aber eben auch viele, die nicht arm sind und die sich niemals so nennen würden.

Als von Armut oder Ausgrenzung bedroht gilt nach der europäischen und damit auch der deutschen Definition, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der gesamten Bevölkerung zur Verfügung hat, wer im Alltag an Mangel leidet - zum Beispiel auf eine Woche Urlaub im Jahr oder ein Auto verzichten muss - oder wer in einem Haushalt lebt, in dem bedeutend weniger gearbeitet wird, als es eigentlich möglich wäre. Eines dieser drei Kriterien reicht aus, damit jemand zu den 20 Prozent der Gefährdeten zählt.

Es reicht nicht für einen neuen Herd, es reicht nicht für Urlaub am Gardasee

Auf die Kassiererin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, treffen gleich alle drei Punkte zu: für jemanden, der allein wohnt, liegt die entscheidende Grenze momentan bei 1033 Euro im Monat, doch sie hat auch noch ihre beiden Töchter mit in der Wohnung, die zweite schläft in der Kammer nebenan. Lange Zeit harrten beide ohne Job aus, jetzt gehen sie genau wie die Mutter jeden Tag in den Supermarkt, aber es reicht trotzdem nicht, so sehr sie sich auch mühen.

Es reicht nicht für einen neuen Herd, es reicht nicht für einen Urlaub am Gardasee, es reicht nicht, wenn die Autowerkstatt eine Rechnung schickt oder der Heizungsinstallateur sein Geld fordert. Allein diese engen zwei Zimmer in einem Haus, das zwar von außen glänzt, aber sich innen als Baustelle offenbart, kosten mehr als 750 Euro Miete im Monat, nach Abzug der Kosten von Strom, Versicherungen und Telefon bleibt ihnen nicht mehr viel. Die Familie würde von sich sagen: Wir sind arm.

Ein Satz, den Studenten dagegen nur selten äußern, sie haben meistens freiwillig gewählt, sich mit zehn Quadratmetern und 250 Euro auf dem Konto zu begnügen. Doch auch sie zählen zu den 20 Prozent der von Armut oder Ausgrenzung Bedrohten. In den vergangenen acht Jahren hat sich der Anteil kaum verändert, eben deshalb kritisieren Politiker, Wissenschaftler und Vertreter von Sozialverbänden immer wieder, dass es ein neues Konzept braucht, um die Armut in Deutschland zu beschreiben. Zuletzt warb etwa Georg Cremer, der Generalsekretär der Caritas, in seinem Buch "Armut in Deutschland" dafür, genauer zwischen Armut und Armutsbedrohung zu unterscheiden.

Nicht nur Politiker sind auf exakte Statistiken angewiesen

Auch, weil in Deutschland und Europa immer im Bezug zu den anderen entschieden wird, ob jemand als bedroht gilt oder nicht. Selbst wenn alle Menschen im Land also plötzlich 500 Euro mehr auf dem Konto hätten, gebe es nach wie vor viele von Armut Gefährdeten. Dieser Relativismus macht die Statistiken angreifbar, darüber beschwerte sich vor Jahrzehnten schon Ökonom Friedrich August von Hayek, das geißelte auch die Bundessozialministerin Andrea Nahles (SPD). Der Ansatz führe leider schnell in die Irre, sagte sie einmal. Dabei ist gerade die Regierung darauf angewiesen, dass Armut genau erfasst wird, dass die Statistiken nicht nur eine Skizze bleiben, denn nach ihnen richten die Minister und Abgeordneten in Berlin die Sozialpolitik aus, legen etwa die Höhe des Arbeitslosengeldes fest oder die Regeln für das Wohngeld.

Noch viel mehr als die Politiker sind diejenigen auf exakte Statistiken angewiesen, die es betrifft, die in diesem Land in Armut leben. Menschen wie der Rentner, der sich am Ende des Monats nicht mehr leisten kann, Medikamente in der Apotheke zu kaufen, Menschen wie die Alleinerziehende, der das Geld nicht reicht, um dem Kind den Ausflug ins Planetarium zu bezahlen oder eben Menschen wie die Kassiererin im Münchner Süden. Die sich nach einem eigenen Zimmer sehnt, doch die sich jeden Abend, so sehr sie sich auch müht, wieder auf die Pritsche legt. An die Wand gegenüber.

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