Süddeutsche Zeitung

Statistik:Schöngerechnet

Die Daten über Langzeitarbeitslose sind irreführend. Es gibt viel mehr, als offiziell angegeben. Der Fehler liegt im System: Ist ein Betroffener länger krank oder macht eine Fortbildung, dann fällt er aus der Statistik.

Von Thomas Öchsner, Berlin

Sie sind häufig über 50 Jahre alt, haben oft entweder keine Berufsausbildung oder gesundheitliche Probleme. 1,037 Millionen Menschen sind in Deutschland langzeitarbeitslos, also mindestens seit einem Jahr offiziell auf Stellensuche. Das klingt nach einer einfachen Rechnung. Tatsächlich ist die Messung der Dauer von Arbeitslosigkeit eine Wissenschaft für sich. Und immer wieder gibt es Kritik, dass die Statistik schöner aussieht als die Wirklichkeit.

Das bekannteste Beispiel ist die 58er-Sonderregelung: Wer mindestens 58 Jahre alt ist und wenigstens zwölf Monate Arbeitslosengeld II (Hartz IV) bezieht, ohne ein Jobangebot bekommen zu haben, gilt nicht mehr als arbeitslos. Er fällt aus der Statistik heraus. Allein dadurch wurde die Zahl der Langzeitarbeitslosen im Juni 2015 um 166 500 nach unten gedrückt. Die Grünen im Bundestag warfen deshalb schon Ende 2011 der früheren schwarz-gelben Bundesregierung vor, die Arbeitslosenstatistik zu schönen. Es gibt aber noch eine andere, bislang außerhalb der Fachwelt wenig bemerkte Tücke in der Statistik, die aus längst registrierten Langzeitarbeitslosen neue Kurzzeitarbeitslose macht und so den deutschen Arbeitsmarkt etwas schöner aussehen lässt, als er tatsächlich ist. Hierbei geht es um die sogenannte "schädliche Unterbrechung".

Dahinter steckt eine einfache Regelung: Die Arbeitslosigkeit gilt als unterbrochen, wenn ein Erwerbsloser mindestens einen Tag gearbeitet, an einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme teilgenommen hat oder länger als sechs Wochen krank war. Ist dann die Arbeit, die Fortbildung oder die Krankheit vorbei, beginnt die Messung wieder bei null, obwohl sich an der Misere der Langzeitarbeitslosigkeit im Prinzip nichts geändert hat. Dabei geht es nicht um einige wenige Fälle. Dies zeigt nun eine neue Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, die das IAB bislang unbemerkt auf seiner Homepage veröffentlicht hat.

Das IAB, das als Denkfabrik der Nürnberger Bundesagentur gilt, hat dabei beispielhaft für den Unterbrechungsgrund "Teilnahme an einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme" vorgerechnet, in welchem Umfang durch diese gesetzlichen Vorgaben für die Statistiker die Zahl der Langzeitarbeitslosen nach unten verzerrt wird. So wäre demnach allein bei Wegfall dieses einen Grundes die Zahl der Langzeitarbeitslosen im Durchschnitt der Jahre 2003 bis 2013 jeweils um acht Prozent höher gelegen. Im Juni 2015 würde allein dadurch die Zahl der Langzeitarbeitslosen um 83 000 höher ausfallen als offiziell gemeldet und damit bei 1,12 Millionen liegen. Das ist aber noch nicht alles: Würde man andere, zum Teil aber nur schwer quantifizierbare Unterbrechungsgründe ebenfalls berücksichtigen, dürfte die Differenz zwischen der offiziellen Zahl der Langzeitarbeitslosen und den tatsächlich dauerhaft Erwerbslosen vermutlich noch um einige Hunderttausend größer ausgefallen.

"Die wahre Problemdimension kommt nicht zum Ausdruck. Deshalb fehlt der Lösungsdruck."

In der Bundesagentur für Arbeit kennt man dieses Problem: "Es ist richtig, dass das subjektive Empfinden von Betroffenen über die Dauer ihrer Arbeitslosigkeit und die statistische Erfassung der Arbeitslosigkeitsdauer nicht immer übereinstimmen", sagt eine Sprecherin der Behörde. Die Bundesagentur müsse sich hier aber an gesetzliche Regelungen halten und verberge diese in ihren Veröffentlichungen auch nicht.

Brigitte Pothmer, arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen, will sich damit nicht zufriedengeben: "Es liegt ein Fehler im System, wenn durch Statistik der Umfang der Langzeitarbeitslosigkeit verschleiert statt offengelegt wird." Dies habe fatale Folgen. "Die wahre Problemdimension kommt nicht zum Ausdruck. Deshalb fehlt der politische Lösungsdruck." Leidtragende seien diejenigen, die langzeitarbeitslos sind oder Gefahr laufen, es zu werden.

Pothmer fordert deshalb eine ehrlichere Statistik, nicht nur bei der umstrittenen 58er-Regelung, die für die Politikerin längst abgeschafft gehört. Die Bundesregierung müsse auch das Prinzip der schädlichen Unterbrechung überprüfen. Es dürfe nicht sein, dass wegen einer Weiterbildung oder Krankheit aus einem Langzeitarbeitslosen wieder ein Kurzzeitarbeitsloser wird. "Das Motto ,aus der Statistik, aus dem Sinn' muss der Vergangenheit angehören", sagt die Abgeordnete.

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Quelle:
SZ vom 14.07.2015
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