Stadt-Land-Gefälle:Wer die Provinz rettet, schützt Umwelt und Demokratie

Abrissbedrohtes historisches Haus in Maisach, 2012

Der ehemalige Sitz eines Kramerladens in Maisach in Bayern. Verfallende Läden sieht man in kleinen Orten oft.

(Foto: Johannes Simon)

Deutschland fällt auseinander: in überhitzte Boomregionen inklusive Stau und Stress und den abgehängten Rest der Republik. Die Politik muss diesen Trend umkehren.

Essay von Harald Freiberger

Die Entwicklung ist nicht neu. Soweit sich das persönlich nachvollziehen lässt, fing sie spätestens im Jahr 1970 an. Da machte in einem 600-Einwohner-Ort auf dem Land in Bayern die einzige Bäckerei zu. Sie war bekannt für ihre Brezen, klein von Gestalt, fest in der Konsistenz, einzigartig im Geschmack. Auch von den umliegenden Orten fuhren die Leute her, um sie zu erstehen.

Man ging von der Dorfstraße durch ein Gässchen. An der Fassade hing eine Plastikfahne, auf die in geschwungenen roten Buchstaben das Wort "Eis" gedruckt war. Wenn man die Tür öffnete, schellte eine Glocke. Hinter der Theke standen zwei ältere Frauen, die Gattin des Bäckers und seine ledig gebliebene Schwester. Das Angebot war schmal. Es gab Mischbrot, Semmeln, Brezen und Zuckerhörnchen. Die Oma wollte immer dunkel gebackenes Brot, der Bäcker ließ dafür einen Laib extra länger im Ofen.

Die Süßigkeiten - weiße Mäuse, Colafläschchen, Armkettchen aus Bonbons - steckten in Glasbehältern. 1970 war das Jahr der Fußball-WM in Mexiko, die nach Meinung vieler Experten die schönste WM aller Zeiten war, inklusive eines "lupenreinen Hattricks" von Gerd Müller, mit "Hinterkopftor" von Uwe Seeler und "Jahrhundertspiel" gegen Italien. In der Bäckerei gab es kleine Schoko-Tafeln mit den Bildern von deutschen Fußballern darauf, Siggi Held im gelben Trikot von Borussia Dortmund, Horst-Dieter Höttges im grünen Trikot von Werder Bremen.

Es sind nostalgische Erinnerungen, die umso wehmütiger ausfallen, als die Bäckerei im selben Jahr zumachte. Der alte Bäcker ging in Rente. Seine zwei Söhne wollten ihm nicht nachfolgen. Einer von ihnen arbeitete lieber im nahe gelegenen Automobilwerk. Die Eingangstür wurde zugemauert, das Gässchen dem Vorgarten zugeschlagen.

Im Ortskern Bretterzäune vor Baulücken, kaum Menschen auf den Straßen

Das Dorf hatte bis dahin alles gehabt, was der Mensch braucht: zwei Wirtshäuser, den "Oberen Wirt" und den "Unteren Wirt", eine Metzgerei, für deren Leberkäse die Leute auch von den umliegenden Orten herfuhren, einen Krämer für sonstigen Bedarf, von Nudeln über Seife bis zu Schnürsenkeln. Als die Bäckerei schloss, fing die Entwicklung an, die dazu geführt hat, dass es in dem Ort heute weder Bäcker noch Krämer noch Wirtshaus gibt. Nur die Metzgerei hat noch geöffnet, zweimal in der Woche vormittags. Ein größerer Betrieb aus der Umgebung hat sie übernommen und in sein Filialnetz eingegliedert.

Es ist eine Entwicklung, von der in Deutschland Tausende kleine Orte betroffen sind. Sie verlieren ihre Geschäfte und Gelegenheiten, bei denen sich die Menschen begegnen, und sie verlieren damit einen Teil ihrer Identität. Die Ortskerne geben davon oft ein trauriges Zeugnis: Wirtshäuser mit innen abgehängten Fenstern, davor die Schautafel, in der keine Speisekarten mehr hängen, sondern nur noch die Reißzwecken. Baulücken mit Bretterzäunen davor. Kaum mehr Menschen auf den Straßen.

Manche Substantive sind schon immer fest mit einem Adjektiv verknüpft. Der "lupenreine Hattrick" gehört dazu, aber auch die "tiefe Provinz" und das "flache Land". Schon immer sind junge Leute vom Land in die Stadt gezogen, weil sie dort bessere Möglichkeiten zu arbeiten und zu leben vorfinden. Die Entwicklung gibt es seit Jahrzehnten, aber sie hat sich in jüngster Zeit noch verschärft.

Die Großstädte wachsen weiter - wer hat, dem wird gegeben

Auf der anderen Seite stehen die boomenden Großstädte und Ballungsräume, die zunehmend überhitzen. Die Menschen zieht es nach Hamburg, Berlin, München und Köln, ins Rhein-Main- oder Rhein-Neckar-Gebiet. Unternehmen siedeln sich dort an, weil sie gut ausgebildete Leute finden. Wer hat, dem wird gegeben. In den vergangenen Jahren hat sich dieser Trend zugespitzt, weil Anleger für ihr Geld keine Zinsen mehr bekommen und es vermehrt in Immobilien stecken. Das tun sie nicht auf dem flachen Land, sondern in den Ballungszentren, wo die Preise für Wohneigentum und Mieten explodiert sind.

Das Ergebnis ist, dass Großstädte und Ballungsräume vor dem Kollaps stehen, was Verkehr, Umwelt und Lebensqualität betrifft. Hässliche Vororte dehnen sich aus, der Berufsverkehr spielt sich im Stau ab, an vielen Straßen ist es wegen der Luftbelastung nicht mehr gesund zu leben. Wohneigentum können sich nur noch Reiche leisten. Deutschland fällt auseinander in überhitzte Boomregionen und den abgehängten Rest der Republik, ob in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg oder Sachsen, ob in Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz oder Hessen.

Das Problem spüren viele Bürger in ihrem eigenen Umfeld. Schön ist es weder hier noch dort. Ein Leben in Stress und Stau auf der einen Seite, ein Leben in Mangel und Langeweile auf der anderen.

Eine entsiedelte Provinz hat schwere Folgen für Wirtschaft, Umwelt und Demokratie

Bis in die Politik aber scheint es sich noch nicht herumgesprochen zu haben, wie dringend das Thema ist. Es ist selten, dass es einmal auf die Tagesordnung kommt. Dabei gehört es zu den größten Herausforderungen unserer Zeit. Die wachsende Kluft zwischen Stadt und Land ist mit einer Reihe anderer zentraler Probleme verknüpft. Auf der einen Seite nehmen Umweltbelastung, Gesundheitsschäden und Zersiedelung der Landschaft zu, auf der anderen Seite Lethargie und Desintegration. Menschen, die sich abgehängt fühlen, sind anfällig für politische Extreme. Das zeigen die Wahlergebnisse von Linken und AfD in ländlichen Regionen wie Sachsen oder Niederbayern. Auch ein Blick in die USA zeigt es: Präsident Donald Trump rekrutierte seine Wähler vor allem im abgehängten Mittleren Westen.

Das bedeutet: Wer die Boomregionen entlastet und das flache Land aufwertet, tut etwas für die Umwelt und stärkt die Demokratie. Seltsamerweise schlug das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) in einer Studie im März genau das Gegenteil vor. "Natürlich ist es hart zu sagen, wir müssen ländliche Räume aufgeben", sagte ihr Präsident Reint Gropp. "Aber nur so haben wir eine Chance, die Unterschiede zwischen Ost und West irgendwann auszugleichen." Die breite Förderung von Regionen lenke staatliches Geld in falsche Richtungen. Er schlug vor, gezielt die Städte zu fördern. Womit er indirekt sagt: Die tiefe Provinz ist ohnehin nicht mehr zu retten.

Schon ein Name für ein Ministerium kann helfen

Das ist eine grobe Fehleinschätzung. Richtig ist das Gegenteil. Es wäre ein großer Fehler, nur noch in Leuchttürme zu investieren und das flache Land links liegen zu lassen. Es würde die wirtschaftlichen und politischen Probleme vergrößern, die daraus folgen. Es ist die zentrale Aufgabe der Politik, in Deutschland gleiche Lebensverhältnisse anzustreben und die Kluft zwischen Stadt und Land zu verringern. Wer die Provinz attraktiver macht, nimmt Druck aus den Städten. Deshalb braucht es einen nationalen Pakt zur Entwicklung der ländlichen Regionen, an dem alle gesellschaftlichen Gruppen mitwirken.

Was kann geschehen? Zunächst muss sich der Bund stärker um das Thema kümmern. Die Entwicklung der Regionen ist Ländersache, in einem bürokratischen Begriff wurde es lange "Raumordnung" genannt. Bayerns Staatsregierung hat dafür vor Jahren das lebensnähere Wort "Heimat" gefunden, es gibt jetzt ein "Heimatministerium". Ex-Ministerpräsident Horst Seehofer hat als Bundesinnenminister dieses Wort auch für die Bundespolitik übernommen. Das ist ein hoffnungsvoller Marketing-Ansatz, der aber erst mit Leben gefüllt werden muss.

Der Bund muss mehr Geld bereitstellen. Wichtig ist zunächst, die Infrastruktur auf dem Land zu verbessern. Straßen und öffentlicher Nahverkehr müssen ausgebaut werden. Es braucht gute Schulen und Kitas. Von zentraler Bedeutung ist ein schnelles Internet.

Die Politik muss Grundlagen schaffen - dann fördert sich die Wirtschaft selbst

Seehofer hat vor Kurzem plakativ gefordert, dass Dax-Konzerne gezielt in strukturschwachen Regionen investieren, um den angespannten Wohnungsmarkt in den Ballungszentren zu entlasten. Doch das werden die Unternehmen nur tun, wenn sie dort Bedingungen vorfinden, unter denen sie erfolgreich arbeiten können. Diese Bedingungen zu schaffen, ist Aufgabe der Politik. Dazu gehören Straßen und schnelles Internet, aber auch gut ausgebildete Menschen.

Es ist auch ein gutes Konzept, Filialen von Universitäten und Fachhochschulen in kleinen und mittleren Städten zu eröffnen. Wenn junge Menschen die Möglichkeit haben, sich in ihrer Region zu bilden und fortzubilden, bleiben sie auch eher dort. Und Unternehmen finden dann eher die Mitarbeiter, die sie brauchen.

Aber es geht nicht nur um die harten Fakten, es geht auch um die Verbesserung des Lebensgefühls in der Provinz. In den Kommunen gibt es unzählige Initiativen, die Politik und Verbände unterstützen können. Dazu zählt es, Läden zu fördern, die gesunde regionale Lebensmittel anbieten. Hotel- und Gaststättenverbände können Wirtshäuser darin unterstützen, betriebswirtschaftlich besser und kulinarisch attraktiver zu werden. Universitäten und Ärzteverbände können junge Ärzte belohnen, wenn sie sich verpflichten, auf dem Land zu arbeiten. Der Landarzt ist schließlich ein ehrenwerter Beruf und womöglich auch lohnender, als im gentrifizierten Viertel einer Großstadt mit fünf anderen Fachärzten um Patienten zu konkurrieren.

Viele Menschen wollen ja eigentlich schon auf dem Land leben

Um die Dörfer lebenswerter zu machen, wären zudem Regeln hilfreich, die verhindern, dass Neubau- und Gewerbegebiete nur an den Ortsrändern entstehen, damit die Ortszentren nicht weiter veröden.

Die Sehnsucht nach einem ruhigen Leben auf dem Land ist tief im Menschen verwurzelt, wohl deshalb, weil viele Menschen ihre Wurzeln auf dem Land haben. Man trifft ja auch in den Großstädten häufig auf Leute, die im Dorf groß wurden. Eine attraktivere Provinz wäre ohnehin der bessere Ort zum Leben, gerade für Familien und ältere Menschen, die sich die boomenden Städte und ihre unschönen Vororte nicht mehr leisten können.

Natürlich wird sich nicht in jedem 100-Einwohner-Ort die Grundversorgung mit Wirtshaus, Bäcker und Metzger wieder herstellen lassen. Aber es wäre schon viel geholfen, wenn Märkte und kleine Städte darin unterstützt würden, für Menschen lebenswert zu bleiben. Das Land ist in den vergangenen Jahren immer flacher geworden, die Provinz immer tiefer. Diese Entwicklung muss umgekehrt werden.

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