Finanzpolitik:EU-Staaten dürfen wohl weiter ungehemmt Schulden machen

Finanzpolitik: Die Finanzministerinnen Sigrid Kaag (l.) aus den Niederlanden und Nadia Calviño (r.) aus Spanien sind sich bei der Reform des EU-Stabilitätspakts einig.

Die Finanzministerinnen Sigrid Kaag (l.) aus den Niederlanden und Nadia Calviño (r.) aus Spanien sind sich bei der Reform des EU-Stabilitätspakts einig.

(Foto: Thierry Monasse/Getty Images)

Die Finanzminister wollen den Stabilitätspakt länger aussetzen, um die Folgen des Ukraine-Krieges und die steigenden Energiepreise abzufedern. Bei der Mindeststeuer hingegen gibt es Ärger.

Von Björn Finke, Luxemburg

Ausgerechnet die Niederlande und Spanien: Die Finanzministerinnen der beiden Staaten legten nun gemeinsame Vorschläge zur Reform des Stabilitätspakts vor. Dabei gehören die zwei Länder bei diesen Fragen sonst meist entgegengesetzten Lagern an. Und Sigrid Kaag und Nadia Calviño machten zugleich klar, dass diese Regeln für solide Haushaltsführung in der EU wohl noch länger ausgesetzt bleiben. Dann könnten Regierungen die Folgen des Ukraine-Kriegs und der hohen Energiepreise für Firmen und Verbraucher abfedern, ohne dass ein Rüffel aus Brüssel wegen zu hoher Schulden droht.

Die Kommission setzte den Stabilitäts- und Wachstumspakt vor zwei Jahren aus, damit die Staaten besser auf die Folgen der Pandemie reagieren können. Dieses Regelwerk, das Höchstgrenzen für die Haushaltsdefizite und Schuldenstände setzt, sollte Anfang 2023 wieder in Kraft treten. Doch die niederländische Liberale Kaag sagte am Rande des EU-Finanzministertreffens in Luxemburg, sie erwarte, dass die Brüsseler Behörde diese Schonfrist verlängere: "Ich denke, dass die Umstände dies gerade rechtfertigen würden", erläuterte sie mit Blick auf die unsichere Wirtschaftslage. Und sie glaube nicht, dass es zwischen den Ministern hier eine "ernsthafte Debatte" geben werde. Ihre spanische Amtskollegin Calviño stimmte zu.

Der zuständige Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni betonte, dass über die Verlängerung erst Mitte Mai entschieden werde, nach Veröffentlichung der nächsten Wachstumsprognose durch die Kommission. De facto scheint es an diesem Beschluss aber keinen Zweifel mehr zu geben. Zumal die Vorhersage für das laufende Jahr enttäuschend ausfallen wird: Gentiloni sagte, die bisherige Prognose von vier Prozent Wirtschaftswachstum für die 19 Staaten mit der Euro-Währung sei wohl "nicht mehr zu erreichen". Der Krieg und die Sanktionen drückten auf die Stimmung der Verbraucher, Zulieferketten seien gestört, und die Energiepreise trieben die Inflation in die Höhe, erklärte der frühere italienische Ministerpräsident.

Eine schwache Konjunktur und der Bedarf, besonders betroffenen Firmen und Verbrauchern finanziell zu helfen, wird die Staatshaushalte weiter belasten. Dabei ließ bereits die Corona-Krise die Schuldenberge kräftig wachsen. Vielen Finanzministern wird es deswegen schwer fallen, die Vorgaben des Stabilitätspakts einzuhalten, wenn er denn wieder aktiviert wird. Daher stieß die Kommission im vorigen Herbst eine Reformdebatte für dieses Regelwerk an: In den Monaten, während der Pakt auf Eis liegt, sollen sich die EU-Regierungen und die Behörde auf Anpassungen einigen.

Holland und Spanien stehen auf einer Seite - das ist ungewöhnlich

Die Kommission versprach, bis Frühsommer Vorschläge zu unterbreiten. Allerdings sind die Wirtschaftsfachleute der Behörde und der Regierungen gerade gut mit drängenderen Themen eingedeckt, etwa der Planung neuer Russland-Sanktionen. Dass der Pakt nun doch nicht Anfang 2023 wieder in Kraft tritt, könnte dazu führen, dass die Kommission diese Reformideen erst später präsentiert, sagten mehrere EU-Diplomaten am Dienstag am Rande der Finanzministertagung.

Der umstrittene Pakt setzt Obergrenzen für das jährliche Haushaltsdefizit von drei Prozent der Wirtschaftsleistung sowie eine Zielmarke für die Gesamtverschuldung des Staats von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung. Doch im vergangenen Herbst prognostizierte die Kommission, dass 2023 nur sieben von 19 Euro-Staaten die 60-Prozent-Marke einhalten können.

Dummerweise sieht der Stabilitäts- und Wachstumspakt vor, dass die Kommission hoch verschuldete Staaten wie Italien drängen muss, den Schuldenstand rasch zu senken. Die Länder sollen binnen zwanzig Jahren die 60-Prozent-Marke erreichen. Italien liegt bei 150 Prozent und müsste folglich zwanzig Jahre lang völlig illusorische Haushaltsüberschüsse anstreben. Darum gilt es als sicher, dass die Kommission in ihren Reformvorschlägen diese Regel durch ein realistischeres Konzept ersetzen wird.

Die niederländische Finanzministerin Kaag und ihre spanische Amtskollegin Calviño wären damit mehr als einverstanden. Sie stellten am Rande des Ministertreffens ein gemeinsames Diskussionspapier zur Weiterentwicklung des Pakts vor. Diese Zusammenarbeit ist bemerkenswert, denn normalerweise finden sich die beiden Regierungen auf unterschiedlichen Seiten der Debatte wieder. Die Niederlande legen viel Wert auf Haushaltsdisziplin, das hoch verschuldete Spanien drängt mit den anderen Südeuropäern auf mehr Nachsicht. Doch dass die Zwanzig-Jahres-Regel nicht funktioniert, scheint inzwischen auch bei den sparsam gesinnten Regierungen Konsens zu sein.

Daher schlagen die Niederlande und Spanien vor, dass hoch verschuldete Länder lieber mit der Kommission individuelle Pläne aufstellen sollen, wie sie die Verbindlichkeiten über die Jahre auf konjunkturfreundliche und realistische Weise senken werden. Bei anderen Streitpunkten bleibt das Papier vage, etwa zur Frage, ob die Kommission Staatsausgaben für Klimaschutz großzügiger behandeln sollte. Das fordern einige Regierungen. Kaag sagte dazu, dass sie solche Ausnahmen nicht für "weise" hält. Bei ihren Amtskollegen sei das Konzeptpapier "recht gut aufgenommen worden", ergänzte sie.

Erpresst Polens Regierung die EU?

Ganz schlecht kam dagegen am Dienstag das Verhalten der polnischen Finanzministerin an. Die EU-Regierungen wollten sich in Luxemburg auf das Gesetz einigen, das die Jahrhundertreform der Unternehmensbesteuerung in der EU umsetzt. Im Herbst hatten sich 137 Staaten bei der Industrieländer-Organisation OECD darauf verständigt, unter anderem eine Mindeststeuer von 15 Prozent auf Gewinne von großen Konzernen einzuführen. Dies soll das Geschäftsmodell von Steueroasen erschweren.

Die EU-Kommission präsentierte im Dezember einen Gesetzentwurf, um die Mindeststeuer in europäisches Recht zu gießen. Bei Steuerfragen müssen die EU-Finanzminister allerdings einstimmig ihr Placet erteilen. Und Polens Vertreterin spielte als einzige nicht mit. EU-Diplomaten äußern den Verdacht, dass es hierbei nicht um Sachfragen gehe, sondern darum, dass Warschau im lange schwelenden Rechtsstaatsstreit mit der EU-Kommission Zugeständnisse erpressen will: zum Beispiel die Freigabe der Milliarden aus dem Corona-Hilfstopf. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) nannte die Blockade "sehr bedauerlich".

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: