Süddeutsche Zeitung

Wegen ernüchternder Steuerschätzung:Soli streichen, Grundrente überdenken

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Von Hendrik Munsberg

Jahrelang konnten Union und SPD aus immer üppiger sprudelnden Einnahmequellen schöpfen, nun droht der großen Koalition eine Art Entziehungskur - und damit auch Verdruss. Wenn SPD-Finanzminister Olaf Scholz diesen Donnerstag die Steuerschätzung verkündet, wird amtlich: Dem Bund fehlen bis 2023, gemessen an der Prognose vom November, mindestens 75 Milliarden Euro.

Was ist jetzt zu tun? Zwei führende Ökonomen melden sich in der Süddeutschen Zeitung zu Wort: der Chef der Wirtschaftsweisen, Christoph Schmidt, und Achim Wambach, Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW). Beide sind sich einig, wie die Bundesregierung reagieren sollte: Der Solidaritätszuschlag müsse komplett abgeschafft werden, um die Mittelschicht zu entlasten. Zudem sollten geplante Vorhaben, vor allem in Sachen Alterssicherung, auf den Prüfstand. Beides würde in der großen Koalition für erheblichen Ärger sorgen.

Wirtschaftsweisen-Chef Schmidt gibt zur Entlastung der Mittelschicht diesen Rat: Vor allem sollte der Solidaritätszuschlag vollständig abgeschafft werden, dessen "ursprüngliche Motivation" sei "mittlerweile weggefallen". Auch Wambach hält das für wichtig. Der Solidaritätszuschlag sei "als temporäre Steuer eingeführt worden. Insofern sollte man konsequent sein und ihn ganz abschaffen", sagt er. Mit Blick auf die SPD fügt der ZEW-Chef hinzu: Wenn man den Solidaritätszuschlag "jetzt nur für 90 Prozent der Steuerzahler abschafft, wird er eher noch zementiert". Das sei einer temporären Steuer "nicht angemessen".

Beide Ökonomen stellen sich damit gegen die Sozialdemokraten, die etwa 90 Prozent der Steuerzahler vom Solidaritätszuschlag entlasten wollen, bei Besserverdienern soll er aber weiterhin kassiert werden. Die Union ist dagegen für eine völlige Streichung der Abgabe, die 1991 eingeführt wurde und seither als 5,5-prozentiger Zuschlag auf die Einkommensteuer erhoben wird. 1997 kassierte der Staat dadurch 14 Milliarden Euro.

Wambach rät der Koalition angesichts verminderter Steuereinnahmen außerdem, "noch nicht beschlossene Ausgabenforderungen der Parteien, wie weitere Rentenausweitungen oder ein längerer Bezug des Arbeitslosengeldes kritisch auf ihre volkswirtschaftlichen Effekte hin" zu überprüfen. Durch die Eintrübung der Konjunktur sei "der Spielraum für neue sozialpolitische Maßnahmen begrenzt". Auch damit stellt der ZEW-Präsident zwei Prestigeprojekte der SPD infrage. Sozialminister Heil will schon bald, mit Rückendeckung von Scholz, seinen Gesetzentwurf für eine Grundrente vorlegen, die Geringverdiener vor Altersarmut bewahren soll. Wer auf 35 Versicherungsjahre in der Rentenkasse kommt, dessen Ruhegeld soll auf bis zu 961 Euro monatlich angehoben werden. Nach dem Willen der SPD soll dies nicht an eine Bedürftigkeitsprüfung gebunden sein, das lehnt die Union mit Verweis auf den Koalitionsvertrag strikt ab. Beim Arbeitslosengeld wollen die Sozialdemokraten die Bezugsdauer auf bis zu 33 Monate ausdehnen, in Einzelfällen sogar auf drei Jahre.

Schmidt und Wambach gehen aber nicht von einer Rezession aus

Schmidt und Wambach sehen die deutsche Konjunktur derzeit aber nicht im Krisenmodus. Das ZEW gehe derzeit immer noch von einem leichten Wachstum aus, so Wambach, die Konjunkturerwartungen hätten sich auf niedrigem Niveau stabilisiert. Auch Schmidt erkennt augenblicklich keine Rezession. Einen weitergehenden konjunkturpolitischen Impuls durch den Staat hält er deshalb derzeit nicht für nötig. Auch Wambach sagt, man müsse jetzt "kein konjunkturelles Aktionsprogramm auflegen".

Und was ist mit der schwarzen Null, also Etats, die ohne Neuverschuldung auskommen - für Finanzminister Scholz bisher ein Gütesiegel seiner Politik? "Wir haben eine Verschuldungsgrenze, die im Grundgesetz festgeschrieben ist und die uns wichtig sein sollte", sagt der ZEW-Chef. Die schwarze Null gehe darüber hinaus, dies sei eine Entscheidung der Politik.

Und Wambach gibt den regierenden Parteien in Zeiten nicht mehr ganz so üppig wachsender Staatseinnahmen noch einen Rat. Dies könne "auch helfen, die politischen Prioritäten neu zu sortieren". Die nächsten Wochen und Monate werden zeigen, inwieweit das den Berliner Koalitionären gelingt.

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Quelle:
SZ vom 09.05.2019
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