Würselen und Brüssel, Straßburg und gelegentlich Berlin. Das sind die Orte, die mit Martin Schulz verbunden werden. In der Aufzählung schwingt das Fragezeichen mit: Wofür steht der Sozialdemokrat, der seine Partei jetzt als Kanzlerkandidat in den Bundestagswahlkampf führt, eigentlich innenpolitisch - und insbesondere in der Wirtschaftspolitik?
Die Antwort darauf führt viele Jahre zurück zu einer weiteren Wirkungsstätte des Genossen Schulz. Im November 2001 trifft sich die SPD zum Parteitag in Nürnberg, und eine der meistgeflüsterten Fragen dort lautet: "Sind Sie auch einer von denen?"
Auf dem Parteitag hatte sich, streng vertraulich natürlich, eine neue Parteiströmung formiert, angesiedelt zwischen der "Parlamentarischen Linken" und dem konservativen "Seeheimer Kreis". Sie nennt sich "Nürnberger Mitte".
Wahlkampf 2017:Ein starker Schulz ist gut für Merkel
Was bedeutet der neue SPD-Kanzlerkandidat für die Union? Sie kann entspannt bleiben. Schwache Sozialdemokraten sind für Merkel gefährlicher als gestärkte.
Schulz, der zu den Initiatoren gehört, beschreibt, was die neue Strömung bewirken soll, nämlich "eine Revitalisierung der politischen Arbeit in der SPD ohne das belastende Flügelschlagen". Schulz fordert eine "wirtschaftspolitische Orientierung im Rahmen der Grundsatzdebatte" und lässt keinen Zweifel daran, was ihn ärgert. Es gebe in der SPD "eine Hoheit über die Tabus, die nicht diskutiert werden dürfen, rechts oder links." Dazu zählt er damals die 35-Stunden-Woche, die mit der Arbeitsrealität vieler Menschen nichts mehr zu tun habe.
Schulz gibt sich als Reformer. Er steht in der rechten Mitte der Sozialdemokratie, an der Seite des damaligen Bundeskanzlers und späteren Begründers der Reformagenda 2010, Gerhard Schröder. Der Ex-Kanzler nennt Schulz einen guten Freund. Im Europawahlkampf 2014 stellt der das neue Buch von Schröder vor. Er sei "einer der ganz großen Politiker in Deutschland", lobt Schulz. Ausdrücklich bezieht er das Lob auf die Agenda 2010, die für andere Europäer heute Vorbild sei.
Die Sparpolitik der Union lehnt er als neoliberal ab
Schon damals zeigt er, dass er auch in der deutschen Innenpolitik über Bande zu spielen weiß, um sich Unterstützer für seine Kandidatur als Spitzenkandidat der Sozialisten im Europawahlkampf zu sichern. Dafür braucht er die Unterstützung aus seiner Heimat. Dass Schröder den Euro einst als "kränkelnde Frühgeburt" bezeichnete, verzeiht er ihm großzügig. Auch für Angela Merkel hat er ein versöhnliches Wort. Der Vorwurf, die Bundeskanzlerin plädiere für eine "marktkonforme Demokratie", gefallen zum Höhepunkt der Euro-Krise 2011, sei "aus dem Zusammenhang gerissen".
Schulz hat als EU-Parlamentspräsident meist über Europa geredet, aber dabei auch nationale, wirtschaftspolitische Wegmarken gesetzt. Etwa in der Haushaltspolitik. Schulz unterstützt den Kurs, über Investitionen Wachstum, Handel und Wandel zu fördern. Die vor allem von der Union betriebene Sparpolitik lehnt er als neoliberal ab. Es sei ein "schwerwiegender Fehler", immer nur die Ausgaben eindämmen zu wollen, analysiert Schulz. Er hält es für wichtig, auch auf die Einnahmen zu schauen. Etwa über eine gerechte Steuerpolitik.
Wenn es um das Stopfen von Steuerschlupflöchern geht, hört sich Schulz nicht anders an als Kanzlerin Merkel und ihr Finanzminister. Für die Unternehmensteuer vertreten beide den Grundsatz, "dass das Land des Gewinns auch das Land der Besteuerung sein muss".
Ebenso wie Merkel spricht sich Schulz dagegen aus, dass die 27 anderen EU-Mitgliedstaaten wegen des aus London angedrohten Steuerdumpings einen "Wettlauf nach unten" beginnen. Es sei "letztendlich eine Entscheidung zwischen fairen Arbeitsbedingungen, hochwertigen Arbeitsplätzen und produktiver Arbeit oder einem Wettbewerb auf der Grundlage von Sozial- und Lohndumping, durch den wir alle schlechter dastehen werden", sagt Schulz.
Zugleich hält er strukturelle Reformen für unverzichtbar. "Unsere Mitgliedstaaten im Norden beweisen uns, dass Reformen nicht zu einer Verschlechterung des Sozialsystems führen müssen", sagte er in Bezug auf den verschuldeten Süden Europas. Eine starke und wettbewerbsfähige Wirtschaft könne "Hand in Hand mit sozialem Zusammenhalt einhergehen".
Im Freihandel ist unter Schulz kein Linksruck zu erwarten
Weiter auseinander liegen Schulz und Merkel in der Europapolitik - obwohl beide als überzeugte Europäer gelten. Schulz drückt seine Überzeugung so aus: Der Bundeswahlkampf werde "ein europäischer Wahlkampf". Die politischen Probleme der Zukunft ließen sich nicht in nationalen Alleingängen lösen. Das hat Merkel zwar auch schon öfters gesagt, in ihrem Handeln aber immer zuerst parteipolitische Interessen vertreten. Was sich derzeit wieder am Streit mit dem IWF um das Kreditprogramm für Griechenland zeigt.
Im Freihandel ist unter Schulz kein Linksruck zu erwarten. Grüne, Linkspartei und Teile der SPD dürften vergebens auf einen Kurs im Sinne der deutschlandweiten Anti-TTIP-Demos warten. Im Gegenteil. Als es etwa im vergangenen Herbst darum ging, das umstrittene Ceta-Abkommen zu retten, setzte sich der damalige EU-Parlamentspräsident massiv für den Vertrag mit Kanada ein.
Schulz ist dem Ideal des scheidenden Wirtschaftsministers Sigmar Gabriel näher, als linken Sozialdemokraten lieb sein kann. Im EU-Parlament konnte Schulz zusammen mit dem SPD-Genossen Werner Lange, der die Pro-Ceta-Linie vertritt, die sozialdemokratische Fraktion von dem Vertrag überzeugen. Sollten die Abgeordneten bei der Abstimmung im EU-Parlament Mitte Februar Ceta mehrheitlich zustimmen, wäre dies ein später Erfolg von Schulz. Fragt sich, ob das auf deutschen Marktplätzen auch so gesehen wird.