Arbeiten im Büro wird ganz anders: Millionen Verwaltungsmitarbeiter schuften künftig an digitalen Fließbändern. Mit Leistungsvorgaben, die Stress und Burn-out erzeugen können. Mit diesem Ergebnis einer dreijährigen Feldstudie bei Konzernen und Mittelständlern erregt das Münchner Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung Aufsehen, das seit 50 Jahren die Industrie untersucht. Der Forscher Andreas Boes erklärt die Ergebnisse - und was sich tun lässt.
SZ: Herr Boes, aus Studien der Auto-, Maschinenbau-, Elektrotechnik- und IT-Branche folgern Sie, dass sich der Büroalltag drastisch wandelt. Reden wir über die Mehrheit deutscher Beschäftigter?
Boes: Klar. Es gibt heute deutlich mehr Stellen im Büro als in der Produktion. Selbst bei traditionellen Maschinenbauern sind heute oft weniger als ein Drittel noch als Werker in der Fabrik tätig.
Und während sich Fabriken wandelten, war das in Büros jahrzehntelang anders?
Ja. Sie blieben lange von den großen Rationalisierungswellen ausgespart. Die Arbeit veränderte sich wenig. Sachbearbeiter hatten Spielraum, wie und in welchem Tempo sie ihre Tätigkeit erledigten. Ingenieure feierten ein Expertentum fast wie bei Künstlern: Keiner auf der Welt kann das wie ich. Büromenschen bestimmten stark, wie groß der Zeitdruck und Stress wurde.
Seit wann ändert sich das?
Seit 15 Jahren versuchen Firmen verstärkt, Verwaltungskosten zu senken.
Weil sie im globalen Wettbewerb stehen?
Und weil in der Produktion kaum noch was zu senken ist. Jetzt werden die Bürojobs umgekrempelt. Mit der Digitalisierung sind neue Konzepte realisierbar. Die Firmen unterscheiden kundennahe Tätigkeiten, konzeptionell-kreative Aufgaben und Routine. Letztere macht nach ihren Schätzungen schon die Hälfte aller Bürotätigkeiten aus. Der Trend geht dahin, Aufgaben so zu gestalten, dass der Anteil wiederholbarer Tätigkeiten möglichst groß wird. Für diese Routinejobs schaffen die Firmen Servicecenter. Hier arbeiten die Menschen wie an digitalen Fließbändern.
Was meinen Sie damit?
Bisher waren die Arbeitsabläufe der Angestellten für die Firmenspitze intransparent, wie eine Black Box. Subjektiv bestimmte der Beschäftigte seine Arbeit selbst. Oft enthielt sie Elemente aus allen Kategorien: Routine, Kundennahes und leidlich Kreatives. Nehmen wir einen Mitarbeiter der Reisestelle. Bisher legten Sie ihm die Belege auf den Tisch. Er füllte ein Formular aus, gab Daten händisch ein. Wenn Sie Taxi gefahren waren, rief er an und fragte nach der vorgeschriebenen Begründung. Am nächsten Tag buchte er Ihnen den Flug nach New York und ein Hotel. Für ihn Abwechslung zur Abrechnerei.
Und jetzt?
Beschränkt die Firma seinen Job auf Routine. Er bucht keine Reise mehr, das machen Sie selbst, er rechnet nur noch ab. Und zwar standardisiert. Sie müssen die Belege selber in den Computer einscannen. Wenn Sie das Taxi nicht begründen, ruft er Sie nicht mehr an, das Geld wird einfach nicht erstattet. Die Firma zerlegt seinen Job in kleine Schritte. Sie bettet diese in einen einheitlichen Prozess ein, der für alle Abteilungen gilt, während bisher Vertrieb, Finanzen oder Personal unabhängig funktionierten, ein Silo für sich. Jetzt kriegt der Mitarbeiter seine Aufgaben kontinuierlich wie am Fließband. Das geschieht in Form von Tickets. Diese ermöglichen in der Verwaltung erstmals genaue Leistungsvorgaben, sagen wir 150 Abrechnungen am Tag.
Diese Messung der Leistung ermöglicht erst die Digitalisierung?
Dadurch lässt sich jeder Arbeitsschritt kontrollieren. Und die Zerlegung des Jobs in kleine Schritte wie in der Fabrik ist die Basis, um Leistungsziele festzulegen. Die 150 Tickets sind nun die Norm.
Das passiert in allen Abteilungen?
Genau, so werden Tätigkeiten von Sachbearbeitern, Referenten und anderen in den meisten Abteilungen zerlegt, als Routinejobs normiert und mit Vorgaben versehen.
Wie verbreitet ist das?
Dieses Leitkonzept wird von fast allen großen deutschen Firmen verfolgt, auf die eine oder andere Weise. Manche setzten es schon um, andere tüfteln noch. Das Konzept setzt sich zunehmend auch bei kleineren Firmen durch. Der Büromensch arbeitet künftig wie am Fließband.
Wie wirkt sich das für Büroarbeiter aus?
Die Arbeit wird eintöniger, sie machen jeden Tag dasselbe. Sie können es nicht mehr steuern. Computersysteme lenken zunehmend, wie sie die Tätigkeit erledigen. Das Tempo wird vorgegeben, ständig kommen Tickets. Das erzeugt insgesamt mehr Leistungsdruck und eine Sinnentleerung. Beides zusammen führt zu psychischen Belastungen. Salopp formuliert: Der Chef kann einen so viel stressen, wie er will. Erst wenn der Mitarbeiter keinen Sinn mehr im Job erkennt, droht Burn-out.
Es ist umstritten, ob Deutsche wirklich häufiger psychisch erkranken - oder ob sich einfach mehr Leute melden und die Ärzte es leichtfertiger diagnostizieren?
Nach Angaben der Krankenkassen nehmen psychische Erkrankungen stark zu. Unser Institut führte eine Studie in der IT-Branche durch. In besonders betroffenen Bereichen litt die Hälfte der Befragten an psychischen oder psychosomatischen Problemen oder stand am Rande davon.
Das klingt dramatisch.
Ich finde noch etwas anderes zentral. Die Standardisierung vereinfacht es ungeheuer, Routinejobs zu ersetzen. Durch Verlagerung an externe deutsche Firmen ohne Tarifbindung. Oder nach Osteuropa. Oder in eine Plattform, in der selbständige Clickworker die Aufgabe erledigen. Oder durch Automatisierung. Eine Firma in unserer Studie beziffert die Verschwendung bei Bürojobs auf 30 Prozent und startet eine entsprechende Rationalisierung.
Wird mehr verlagert oder automatisiert?
Bei Routinejobs greift in Deutschland seit ein, zwei Jahren die Idee, dass sich viel automatisieren lässt. So wie der japanische Versicherungskonzern Fokoku gerade verkündete, jeden vierten Mitarbeiter in der Schadensbemessung durch IBMs Watson-Rechner zu ersetzen, der Dokumente scannt, um Zahlungen an Kunden zu berechnen.
Warum denken Sie, dass Kostensenken durch das Zwängen der Bürobeschäftigten an Fließbänder, Verlagerung oder Automatisierung flächendeckend kommt?
Weil die Firmen mit Blick auf die Bürojobs als erstes auf die Kosten schauen und nicht auf die strategischen Herausforderungen. Der permanente Wettbewerb im globalen Kapitalismus legt ständig niedrigere Kosten nahe. Viele Mitarbeiter fürchten um ihre Stelle, weil sich viele Jobs standardisieren oder ersetzen lassen.
Die Perspektiven für Routinejobs sind also schlecht: Entweder mehr Stress oder gar keine Stelle mehr. Aber bei den kundennahen und kreativ-konzeptionellen Stellen, zu denen ein Mitarbeiter wechseln kann, sieht es doch viel besser aus?
Zum Teil. Auch hier versuchen Firmen, zu standardisieren. Das betrifft etwa das gewinnschwache Massengeschäft im Vertrieb, das als Service-Center abgespalten wird. Einen anspruchsvollen Job hat dann nur noch, wer Großkunden individuell betreut.
Es wird aber doch insgesamt mehr in Teams gearbeitet, ein Plus für Mitarbeiter, weil sie mehr entscheiden.
Das ist positiv, ja. Hier liegen große Chancen für bessere Arbeitsbedingungen. Wir dürfen aber nicht übersehen, dass damit auch die Arbeit der Büromenschen viel transparenter als früher wird. Denken Sie an einen Fahrzeughersteller: Bisher hat vielleicht ein Beschäftigter für jedes Land die Leasingpreise für einen Fahrzeugtyp individuell berechnet. Das war sein Herrschaftswissen, seine Black Box. Jetzt entwickeln die Mitarbeiter im Team ein gemeinsames Modell. Und der Chef kann plötzlich jedem vorgeben, wie lange er für eine Aufgabe braucht. Wenn der Chef in Ihre Black Box schauen kann, haben Sie verloren.
Und die künstlergleichen Ingenieure, die müssten doch relativ sicher sein?
Die Firmen versuchen, das nötige Kreative auf wenige gut bezahlte Mitarbeiter zu konzentrieren. Ein wirklich neues Bremssystem für ein Auto entwickelt der eigene Ingenieur. Aber für die Weiterentwicklung reicht vielleicht eine externe Firma in Indien. Die Trends sind klar. Die großen deutschen Konzerne expandieren auch mit ihren Entwicklungsabteilungen ins Ausland. Das liegt weniger am Fachkräftemangel, wie oft behauptet wird. Stattdessen geht es meist darum, neue Märkte zu erschließen und natürlich, Kosten zu sparen. Mir macht das Sorgen.
Verstehen Sie die Firmen?
Die stehen selbst unter Druck: Sie müssen im globalen Wettbewerb günstig sein und schnell, weil der Kunde den neuen Antrieb heute in drei Monaten will, nicht mehr in drei Jahren. Aber die eigentliche Megaaufgabe, die alles überwölbt, ist: ein Geschäftsmodell für die digitale Ära finden.
Für Büromitarbeiter sind Ihre Trends jedenfalls düster.
Das lässt sich verhindern, wenn die Gesellschaft neue Arbeit schafft.
Wie?
Durch neue Produkte, die neue Stellen bringen. Ein Autokonzern baut in Zukunft vielleicht nicht mehr nur Autos, sondern bietet Ihnen auf Internet-Plattformen zusammen mit anderen Partnern, etwa der Bahn oder Google, individuelle Mobilitätslösungen. Sie fragen ab, welche Kombination heute für die Fahrt von München in die Nähe von Frankfurt wie viel kostet, wie lange es dauert und wie sehr es das Klima schädigt: Etwa die Kombination Fahrrad, Zug und Taxi oder eben die Fahrt mit dem eigenen Auto. Dafür brauchen Sie Mitarbeiter, die aus dem Datenwust sinnvolle Informationen gewinnen und diese gewichten, was sie besser können als Maschinen.
Ambitioniert.
Eine Verkäuferin sichert ihren Job, indem sie die neue Datenmenge über ihre Filiale nutzt, um Verbesserungen vorzuschlagen. Weil sie erkennt, dass Kunden sich bei der Konkurrenz wohler fühlen, das Licht dort angenehmer ist und das Anprobieren bequemer.
Die vorher in eintönige Jobs Gepressten können das und zeigen Eigeninitiative?
Die Dequalifizierung durch digitale Fließbänder sabotiert den Sprung in die neue Arbeitswelt, ja. Deshalb sollten die Firmen viele Beschäftigte an den Schnittstellen der Informationen halten, statt zu standardisieren und automatisieren. Um die Menschen auf neue Jobs vorzubereiten.
Warum sollten die Firmen das tun, wenn es teurer ist als Roboter?
Dieser grundsätzliche Konflikt des Kapitalismus zeigt, dass die Gesellschaft den Wandel gestalten muss. Dazu gehört auch, die Arbeitszeit zu verkürzen, den Wohlstand umzuverteilen und soziale Tätigkeiten aufzuwerten, statt den Staat weiter auszubluten.
Sie fordern viel auf einmal.
Die Populisten sind schon zu stark geworden, weil sich die Menschen wegen stagnierender Löhne abgehängt fühlen und den Abstieg fürchten. Das hat Donald Trump ins Amt gebracht. Digitale Fließbänder machen das alles noch viel schlimmer.